DAS CHINESISCHE JAHRHUNDERT - Die neue Nummer eins ist anders
DAS CHINESISCHE JAHRHUNDERT
Die neue Nummer eins ist anders
Von Wolfram Elsner
WestendVerlag
ISBN 978-3-86489-261-5
384 Seiten
Klappentext Rückseite
China ist in aller Munde. Zu Recht! Denn China ist in vielerlei Hinsicht das führende Land des 21.Jahrhunderts. Es hat in kürzester Zeit den einzigartigen Aufstieg von einem der ärmsten Entwicklungs-Länder zu einem Land mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen gemeistert. Doch seine Leistungen gehen weit über das Wirtschaftswachstum hinaus.
Wolfram Elsner liefert erstaunliche und oftmals unbekannte Einblicke in das alltägliche Leben und in fast alle Entwicklungsbereiche und Politikfelder eines Systems, das einfach anders funktioniert. Um zu verstehen, was in China und mit China in der Welt gerade passiert, müssen wir die westliche Brille abnehmen und uns von vorgestanzten Vorstellungen lösen.
Unser Bild von China ist verzerrt und unterbelichtet.
Wolfram Elsner plädiert für einen offenen Dialog sowie verlässliche, langfristige und selbstbewusste Kooperation mit der neuen Nummer eins.
Klappentext zum Autor
Wolfram Elsner, geb. 1950, war Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Bremen und Leiter des Bremer Landesinstituts für Wirtschaftsforschung. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher internationaler Publikationen und Lehrbücher und ist Editor-in-Chief des Review of Evolutionary Political Economy - REPE (Springer Nature). Zahlreiche internationale Lehr- und Vortragsaufenthalte führten ihn unter anderem als Adjunct Professor an die University of Missouri, Kansas City und seit 2015 als Gastprofessor an die School of Economics, Jilin University, Changchun, China
Inhalt
Geleitwort von Folker Hellmeyer
Einleitung: China, die Chinesen und ich
Mein begrenztes und gebremstes Interesse an China
1968: die „Mao-Bibel“ und die „Kulturrevolution“
1976: „Kulturrevolution“ und Maos Tod
1976 und folgende: „Viererbande“‚ Deng Xiaoping, Stabilisierung, Reform & Öffnung
1989: Tian‘anmen
Zwischenzeitlich in Deutschland: „Maoisten“ auf dem grünen Spaziergang in die Institutionen
2001: China wird als „Marktwirtschaft“ anerkannt:
Aufnahme in die Welthandelsorganisation... und Clintons Traum, dass Google und Facebook China übernehmen
2008: „Kann der Kapitalismus den Aufstieg Chinas überleben?«
2008 und folgende: die Weltkonjunktur-Lokomotive
2009: „Bliefe von dlüben“
2010: Mein erster „eigener“ Chinese
Weitere Chinesen kommen
„Fünf BERs und eine Magnetschwebebahn, bitte!«
Gespräche im Flieger auf dem Rückweg von China
...und Gespräche im eigenen Land: in der Deutschen Bahn
Turbokapitalisten? Freunde der Diktatur?
Nachtrag Ende 2019: „Ja, aber Hongkong...“
„Ja, aber die Uiguren...“
Nachtrag Anfang 2020: „Ja, aber das Coronavirus ...«
Über China Lernen lernen...
Teil I
China verstehen lernen... oder ideologischer Krieg?
Was einem China-Reisenden so auffällt...
Gemischte Motive im Westen: zwischen Anerkennung sowie Lernenwollen und heimlichem Neid sowie offenem Wutgeheul
China verstehen lernen heißt auch, uns selbst verstehen
Teil II
Vom Entwicklungsland zur Führungsnation. Strukturen und Prozesse sozialen und ökonomischen Erfolgs -
»Oje, Planwirtschaft!“ - Ja, aber anders: wo Pläne nicht nur Wahlkampfklamauk sind — der 13.Fünfjahresplan (2016—2020), aufregende Zukunftsideen in allen Bereichen mobilisieren Kräfte
»Oje, Wirtschaft und Geld!« - Ja, aber auch anders: Wirtschaft, Geld, Finanzen, Technologie und die Tiefenstruktur robusten Wachstums — agile Industriepolitik, Entrepreneurship und Kreditversorgung, Regulierung und Deregulierung, Staat und Markt
»Oje, Staatseigentum!« Eigentum, Unternehmertum, Sharing Economy: Vielfalt der chinesischen Eigentums- und Unternehmensformen
»Nur arme Schlucker und Milliardäre!« - Einkommen, Verteilung und Rückverteilung nach unten: Armutsbeseitigung, Lohnsteigerungen, Steuersenkungen — und Druck auf die MilIiardärseinkommen
»Alles Arbeitssklaven!« - Arbeit und Soziales in Bewegung.- Arbeitsrechte und Arbeitskämpfe. Sozialversicherung und Krankenversorgung, Frauenemanzipation und Bevölkerungspolitik, Wanderarbeiter und »Hukou«‚ soziale Mobilisierung und lokale Partizipation
»Arme Bauerndörfer und Monsterstädte!« - Regionale Angleichung und Aufholung, neuartige Kooperationsregionen, lebenswerte Megacitys, neue Wälder um neue Hochhäuser, und das »Netzwerk der 300 grünen Städte«
»Größter Umweltverschmutzer!« - Umwelt- und Klimaschutz: von der abhängigen Dreckschleuder des Westens zur ökologischen Führungsmacht - Ökorevolution an allen Fronten, Bäume, Bäume, Bäume, und die »Waldameisen«-App
»Neuerfindung der Diktatur!« Alltagsverhalten und Verhaltens-»Nudging«: Philosophie, Religion, Konsumverhalten, Korruptionsbekämpfung — und das »glaubwürdige China«
»Lager für Minderheiten und Polizeistaat!« - Chinas Nationalitäten- und Minderheiten-Politik: Taiwan, Tibet, Xinjiang...
»Neuer lmperialismus!« - Die andere Globalisierung.- Süd-Süd-Kooperation, UNO, Pariser Abkommen, Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Neue Seidenstraße, Auslandsinvestitionen — und China als neues Einwanderungsland
Teil III
»lt‘s the system, stupid!«
1 Viele Baustellen, viele Bauklötze: »Mosaik« und »System« — ein hochdynamisches Etwas
2 »Alles Kommunismus!“ - Was ist das für ein »System«?, »Kommunismus«‚ »Sozialistische Marktwirtschaft«‚ »Turbokapitalismus«‚ »Diktatur« oder was? Im begrifflichen Gewusel sortieren
3 »Kenn' ich nicht, weiß ich nicht, brauch' ich nicht!« - Ein neuartiger Sozialismus für das 21.Jahrhundert, wichtig für dich und dich und mich: anders als wir glaubten, anders als alles, was wir kannten, anders als wir erzählt bekommen
4 Und ja, eine kritische Abwägung: Problembereiche und Aussichten
Literatur
Anmerkungen und Quellen
Anhänge:
Diesem Buch sind als Anhänge Gastbeiträge von Prof. Dr.Rudolph Bauer, Dr.Rolf Geffken und Madeleine Genzsch beigefügt mit deren Hilfe einige Kapitel dieses Buches besser zu verstehen sind:
Prof. Dr. Rudolph Bauer, Bremen, schreibt in »Eine kurze Geschichte der chinesischen Kultur« über den kulturhistorischen, gesellschafts- und staatsphilosophischen Hintergrund des modernen China.
RA Dr. Rolf Geffken beschreibt in „Chinas Arbeiterklasse und ihr Recht“ die Entwicklung des neuen Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen in China.
Madeleine Genzsch, MBA, untersucht in „Sozioökologische Transformation durch Sozialpunkte“ die Gestaltung, Wirkungen und Diskussion der verschiedenen regionalen und lokalen Punktesysteme in China.
Die Gastbeiträge sowie ein Personen- und Sachverzeichnis zum Buch sind online frei zugänglich unter dem Link: www.westendverlag.de/china
Ohne ideologische Scheuklappen auf China schauen!
Geleitwort von Folker Hellmeyer
Dieses Buch ist überfällig, da es das Potenzial hat, endlich die erforderliche Sachlichkeit in den Diskurs über China zu bringen. Weder im politischen noch im medialen Raum ist diese aktuell ausreichend gewährleistet und damit ist dieses Buch auch eine Provokation gegenüber den gängigen Darstellungen.
Provokation ist aus meiner persönlichen Erfahrung zum Thema China bitter nötig, denn der selbstverliebte und moralinsaure Blick auf die eigene Position verstellt uns im Westen den Blick auf die Dynamik der globalen Veränderungen auf Ökonomischer Ebene.
Der Inhalt dieses Buches soll dazu animieren, selbstkritisch unseren westlichen Zeitgeist und unsere sogenannte moralische Überlegenheit zu hinterfragen. Unsere „Werte“ manifestieren sich in einer egozentrischen Politik, in der unsere eigene Sichtweise zumeist nicht mehr mit der Sichtweise der Entscheider und der Menschen der aufstrebenden Länder im Einklang stehen.
Das ist äußerst risikobehaftet.
Das gilt vor allen Dingen für den Blick auf die finanzökonomischen Machtachsen.
1990 hatten die aufstrebenden Länder zu Beginn der beschleunigten Globalisierung nach dem Fall des Kommunismus lediglich einen Anteil von circa 20 Prozent am weltweiten Bruttoinlandsprodukt, mittlerweile liegt der Anteil bei 63 Prozent.
Da die aufstrebenden Länder mindestens doppelt so schnell wachsen wie die westlichen Länder, ist das Erreichen der Marke von 70 Prozent und mehr nur eine Zeitfrage. Diese Länder stehen für 88 Prozent der Weltbevölkerung und sie kontrollieren circa 70 Prozent der Weltdevisenreserven. Sie geben das Tempo in der Weltkonjunktur vor. Gerade China ist nicht mehr nur Werkbank der Welt, sondern mittlerweile führend im Bereich wesentlicher Schlüsseltechnologien wie etwa dem 5G-Netzwerk.
Werden diese Länder sich vom Westen, der heute noch 37 Prozent Anteil am Welt-BIP hat (bei fallender Tendenz), der nur zwölf Prozent der Weltbevölkerung stellt und lediglich circa 30 Prozent der Weltdevisenreserven kontrolliert, weiter überstimmen lassen?
Europa ist gut beraten, die Erfahrungen der Hanse zu verinnerlichen. Dort hieß es „Wandel durch Handel“. Augenhöhe war ein Kernmerkmal des Umgangs und ist für nachhaltige Entwicklungen unabdingbar. Handel ist aktive Friedenspolitik, da der Handel das Miteinander voraussetzt und Brücken baut. Handel bedingt kulturellen Austausch, das Lernen voneinander und miteinander.
Dazu mag auch gehören, dass andere Kulturen nicht reif für die Debatten und Strukturen des Westens im Rahmen unseres Zeitgeistes sind. Genügend Anschauungsmaterial gibt es in jüngerer Zeit von Afghanistan über den Irak und Libyen bis hin zu Syrien. Westliche Strukturen lassen sich nicht herbeibomben oder herbeiputschen. Echte kulturelle Toleranz und nicht vermeintliche
Toleranz auf der Verbalklaviatur sollten auf der Agenda stehen.
Dieses Buch beleuchtet mannigfaltige Facetten und liefert sachliche Einblicke, die bezüglich der zukünftigen Bedeutung Chinas und der aufstrebenden Länder für die Exportnation Deutschland, für die Eurozone und die EU elementar sind. Es wird klar, dass wir aufgrund falscher Loyalitäten bereits spät dran sind. China und die aufstrebenden Länder werden nicht auf uns warten!
Ich danke Wolfram Elsner für sein Engagement und wünsche dem Buch eine breite Leserschaft.
Bremen, im März 2020
Folker Hellmeyer war viele Jahre Chefökonom der Bremer Landesbank, ist Chefanalyst von SOLVECON-INVEST GmbH und Mitglied des Präsidiums des 2019 gegründeten BVDSI - Bundesverband Deutsche Seidenstraßen Initiative.
Einleitung: China, die Chinesen und ich
Seite 13-15
Mein begrenztes und gebremstes Interesse an China...
Noch vor etwa 15 Jahren hätte ich keinen Cent auf Chinas Zukunft gewettet: „Die wollen den kapitalistischen Tiger reiten!? Dieser Tiger lässt sich nicht reiten! Er reitet dich, und da kommst du nie wieder raus.“ Die Illusionen der ehemaligen DDR-Bürgerrechtsbewegung über einen „sozial geläuterten Kapitalismus“ hatten die Bürgerrechtler, wie viele vor ihnen in der Geschichte, bekanntlich teuer bezahlen müssen, trotz Konsum und Glitzerwelt-Versprechen, nämlich mit Existenzunsicherheit, Benachteiligung, innerer Kolonialisierung durch „Besserwessis“ und letztlich mit ihrem Selbstwertgefühl.
Aber ich hatte ja keine Ahnung von den Ideen und reichhaltigen Erfahrungen Chinas, dem historisch ererbten großen Potenzial, dem Willen, aus dem „Jahrhundert der Demütigung“ durch den europäischen Kolonialismus herauszukommen, aus Hunger, Armut und Unterentwicklung und der Kraft und Mobilisierungsfähigkeit dieses Landes, seiner Menschen und, ja, auch seines „Systems“. Ich schaute also genauso skeptisch, genauer gesagt: mit genauso viel Unwissen und Unverständnis auf dieses Land, auf dieses „Phänomen“, wie viele meiner mitteleuropäischen Mitmenschen es taten — und viele davon es auch heute noch tun.
Tatsächlich hatte ich mir China immer „vom Hals gehalten“. Ideen, mal nach China zu reisen, hatte es im privaten Bereich seit Jahren gegeben. Freunde und Familie hatten Bilder gesehen und persönliche Berichte gehört, die ihnen Lust auf China machten. Die große Mauer sehen und die „verrückten“ Chinesen? Ich wischte die Idee vom Tisch: „Was soll ich denn da?“ Die Kultur war mir fremd, die Sprache zu kompliziert... In Wirklichkeit war es vermutlich Angst vor Enttäuschung, der Enttäuschung, nicht das reine, saubere sozialistische Ideal nach den Ideen eines typischen europäischen Intellektuellen zu sehen, sondern ein Land, das hochgradig unfertig ist, auf einem sehr langen Marsch... und wer wusste schon wohin? Oder auch ganz banal: Angst vor dem Verlust lieb gewordener Vorurteile.
Ich war nun wahrlich kein ausgesprochener Ignorant, saß definitiv nicht mehr auf dem hohen Europa-zentrierten Ross, von dem herab heute viele immer noch ihren „Werte«-Absolutismus anderen glauben predigen zu müssen, glauben, die Welt in Gut und Böse einteilen zu können und alle anderen wahlweise „retten“ oder „bestrafen“ zu müssen. Eine solche Arroganz und Ignoranz hatte mir in den späten 1960er-Jahren schon im Gymnasium mein großartiger Geschichtslehrer ausgetrieben. Und was ich als „68er“ zusätzlich an (Selbst-) Kritik-Fähigkeit gelernt hatte, dahinter wollte ich auch nie mehr zurückfallen, auch nicht irgendwie „grün“ oder auf andere Weise gutmenschlich gewendet. Zum Glück wollte ich auch keine neue Partei gründen und nicht hinter politischen Posten hinterherjagen, um von dort aus dann die Welt zu belehren oder „unsere (Rohstoff-) Interessen“ in fremden Ländern zu „verteidigen“.
Ich wusste ein bisschen über die Geschichte Chinas, auch wie diese historische Großmacht mit jahrtausendealter Hochkultur und riesigen technischen und wissenschaftlichen Vorsprüngen gegenüber Europa (das ja stets am hintersten Rand Eurasiens lag), die nie ein anderes Land versklavt hatte, ab dem 16.Jahrhundert auf irgendeine Weise gegenüber eben diesem Europa ins Hintertreffen geriet und schließlich Opfer des europäischen Kolonialismus und Imperialismus wurde, zerschlagen, aufgeteilt, ausgeplündert, erniedrigt, in millionenfache Opiumabhängigkeit gezwungen, mit Massenmorden überzogen, zerstört und nach jenem „Jahrhundert der Demütigung“ als eines der ärmsten Entwicklungsländer der Welt zurückgelassen worden war. Zusammen mit England, Frankreich, Deutschland, Italien und dem zaristischen Russland wollten dann auch die USA ihren Anteil an diesem fettesten aller Brocken auf Erden (In puncto Wissen und Weisheit, Produkte, Technologien und Ressourcen sowie Arbeitskräfte und Absatzmärkte) haben.
Und die Brutalität der englischen und deutschen Ausbeutung erhielt dann noch eine Steigerung in der noch stärker rassistisch motivierten Besatzung des potenziellen ostasiatischen Konkurrenten durch die Japanische Armee, die das Land weiter ausbluten ließ und zu ihrem Bordell machte (wie die meisten Invasionsarmeen in fremden Ländern es eben tun).
Ich wusste auch ein wenig vom Langen Marsch 1934-35, von Mao Zedong, vom Großen Sprung nach vorn 1958-61 und den letzten großen Hungersnöten in der Zeit des Großen Sprungs. Und ich plapperte, wie fast alle Intellektuellen damals nichts wissend, begeistert von der „Kulturrevolution“ (1966-1976).
Seite 320-326
Teil III, Kapitel 3
„Kenn’ ich nicht, weiß ich nicht, brauch’ ich nicht!“
Ein neuartiger Sozialismus für das 21.Jahrhundert, wichtig für dich und dich und mich: anders, als wir glaubten, anders als alles, was wir kannten, anders, als wir erzählt bekommen
Nochmal: einige „Bauklötze“
Lassen wir noch einmal einige markante Phänomene Revue passieren, die das chinesische System ausmachen und uns letzte Hinweise auf die Frage des Systems geben:
Die Unternehmen sind vielfältig institutionell eingebettet. 1) Ihre Renditen unterliegen dem Primat der Politik und sind mehr abhängige als unabhängige Variablen im System. Teile der Gewinne sind zu verwenden für höhere F&E-Aufwendungen, den Aufbau von Infrastrukturen, die Sicherung der natürlichen Gemeinschaftsgüter, die Erhöhung von Löhnen und steigende Sozialversicherungs-Leistungen. 2)
Chinas Entwicklung ist „verbunden mit einer kontinuierlichen Umorganisation des Verhältnisses von Staat zur Privatwirtschaft“‚ wobei der „Staat mit einer immer größeren Rolle in wichtigen Industriesektoren und im Finanzsektor“ agiert. 3)
Es finden eine „Koordination und Sozialisierung der Investitionen“ sowie „neue und höhere Formen ökonomischer Planung“ statt. 4)
Strategische Teile der Industrie- und Dienstleistungssektoren sind in Staatseigentum; die Kreditvergabe ist staatlich kontrolliert.
Dabei sind die Besitzformen (nicht Eigentumsformen, sondern nur Pachtformen) vielfältig und flexibel, wie schon beschrieben, sogar „fuzzy“‚ wie manche sagen. 5)
Die verschiedenen Bündel von Rechten und Pflichten, die „Landbesitz“ ausmachen können, rangieren, wie bereits beschrieben, von Individualbesitz, städtischem Developer-Besitz, Firmenbesitz über Genossenschaften, Dorfgemeinschafts-Eigentum bis zum beschriebenen ländlichen HRS der einzelnen Bauemfamilie. 6) Öffentliche und private Formen des Besitzes mischen sich flexibel, wenngleich im Einzelfall jeweils vertraglich klar definiert.
Ebenso sind die Unternehmensformen vielfältig und variabel, wie ebenfalls schon beschrieben. Folgende Unternehmensformen mischen sich im „System“: Unternehmen in Staatsbesitz, Unternehmen in Kollektivbesitz, Kooperativen, „Joint-owner-ship“-Unternehmen, Äquivalente von GmbHs und AGs, Einzelunternehmen, Selbstständige und ausländische Beteiligungen. 7) Seit 2013 sind auch private Kapitalbeteiligungen an staatlichen Unternehmen möglich. 8
Über verschiedene Formen der sich ausbreitenden chinesischen Sharing-Ökonomie, auch in privaten P2P- beziehungsweise C2C-Bereichen, haben wir ebenfalls berichtet. Ein Indikator für gewisse Sozialisierungsprozesse von unten.
Eine große Rolle spielt die Strategie der Rückverteilung, zum Beispiel über erhebliche Steuererleichterungen für untere und mittlere Einkommensklassen und stärkere Heranziehung der Superreichen.
Wir hatten auch auf das hohe Maß sozialer Mobilisierung, Partizipation, und Aktivierung in den verschiedenen Arbeits- und Lebensbereichen hingewiesen.
Eine neue Gesellschaft scheint auch in Alltagsphilosophie und Alltagsverhalten erkennbar, mit systemischem Denken, Streben nach sozialer Harmonie und Interessenausgleich, Kooperati- onsstreben, Akzeptanz von Diversität, Lern- und Kommunikationsfreude, Interesse an Fremdem, freundlicher Entspanntheit auch im Geschlechterverhältnis, Aufgeschlossenheit und ohne Hektik (siehe oben). Es existiert eine große Gelassenheit aufgrund einer fundamentalen sozialen Sicherheit, wachsender Einkommensaussichten und überdurchschnittlichem Zukunfts- optimismus (siehe oben). Die meisten Chinesen legen auch eine deutliche Aversion gegen Ungleichheit an den Tag. Zu demonstrativer Konsum und zu massive Reichtumspräsentation stoßen weitgehend auf Ablehnung.
Im öffentlichen Leben gibt es keine Anzeichen von Armut, Deprivation oder sozialer Exklusion.
Überschüssiges Kapital muss nicht zwecks Renditemaximierung exportiert werden, chinesische Investitionen im Ausland spielen daher eine andere Rolle in Entwicklungsländern und sind auch nicht mit militärischen Mitteln zu sichern.
Für China gilt keine militärische Erstschlags-Doktrin. 9)
Es erscheint vielmehr als ein führendes, „sich selbst genügendes“ System. 10)
Beenden wir die exemplarische Liste von oben schon näher Beschriebenem mit der bereits zitierten Aussage von Xi aus seiner letzten Parteitagsrede, »Die Sicherheit der Arbeiterklasse ist Kern der nationalen Sicherheit“, den wir interpretiert hatten als Indikator für den sozialen Kerninhalt des Systems.
Und so erklären sich Existenz, Dynamik und Effektivität der Märkte im chinesischen System — „Produktivkräfte“ und „Produktionsverhältnisse“
Es erklärt sich damit auch das besondere „systemische“ Verhältnis von Markt und Staat im chinesischen System. China hat die wesentliche Phase der kapitalistischen Entwicklung von einem armen Entwicklungsland zu einem sich entwickelnden führenden Industriestaat und aktuell zur neuen Nummer eins im Wesentlichen zwischen 1978 und 2012, also in weniger als 35 Jahren durchlaufen, wofür die entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ohne vergleichbaren Druck etwa 200 Jahre Zeit hatten. Der Markt wurde in China mobilisiert wie nirgends anderswo und zuvor, mit allen bekannten, zum Teil noch nachwirkenden negativen Erscheinungen. Er war das zentrale Instrument der Produktivkraftentwicklung genauso wie bei den kapitalistischen Ländern.
Ohne diese Produktivkraftentwicklung hätten die Produktionsverhältnisse im bereits formal und machtpolitisch bestehenden Sozialismus nicht zu einem substanziellen Sozialismus mit steigendem Wohlstand aller und nationalem Aufholprozess weiterentwickelt werden können.
Was aber unter sozialistischen Rahmenbedingungen aus den Märkten an Innovation, Unternehmertum und sozialer Mobilisierung dauerhaft herausgeholt werden konnte, konnten die entwickelten kapitalistischen Industriestaaten nur in kurzen Phasen ihres Aufstiegs, zuletzt in den zwei Jahrzehnten des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, leisten.
Was China aus einem immer noch niedrigen Pro-Kopf-Einkommen bereits an Vieldimensionalem Wohlstand, an technologischer, ökologischer, sozialer, bildungsmäßiger und kultureller Performanz herausholt, sucht in der Geschichte seinesgleichen. Der Beweis, „dass eine Marktwirtschaft unter der Hand des Staates effizient arbeitet“‚ so der Vizepräsident der Peking-Universität‚ 11) scheint damit erbracht. Es zeigt sich mithin, was unter entsprechenden Produktionsverhältnissen an Produktivkraftentwicklung möglich wird, wenn also die Gesamtentwicklung einer Nation nicht mehr primär durch das Nadelöhr maximaler Kapitalrenditen hindurch muss.
Solche Produktivkraftentwicklung geht längst nicht mehr als Kapitalismus, wie wir ihn kennen, aber auch niemals als „kommunistische Diktatur“‚ nicht als „sozialistische Marktwirtschaft“ und auch nicht als irgendwie anders „gemischtes System“‚ oder gar als „Chinismus“. Wer sich solche vermeintlichen Kerncharakteristika des chinesischen Systems herauspickt, verstellt sich den Blick auf die Realitäten.
Der Ökonom Eike Kopf hält daher die eigene chinesische Charakterisierung als eines Anfangsstadiums des Sozialismus für richtig und argumentiert, dass das von China bis 2049 konzipierte und „bisher gemeisterte Anfangsstadium des Sozialismus“ eine ähnliche weltgeschichtliche Reformation wie die bürgerlich-protestantische Reformation des 16.Jahrhunderts darstellt, und damit nicht weniger als eine „Übergangsetappe zu einem höheren Zivilisationstyp“ sei.12)
Und die chinesischen Kapitalisten?
Der marxistische Philosoph Domenico Losurdo konkretisiert noch, dass sich die Frage der Charakterisierung des Systems als „Sozialismus“ anhand der politischen Macht erklärt und der „innere Klassenkampf“ in China vorläufig entschieden sei (der „äußere“, internationale noch keineswegs). Die chinesischen Kapitalisten seien politisch völlig, ökonomisch aber nur teilweise enteignet. Sie seien jedenfalls nicht mehr in der Lage, ihre ökonomische Macht in politische zu verwandeln, hätten sich den nationalen sozialistischen Entwicklungszielen unterzuordnen, die Regulierungen und Vorgaben zu befolgen und könnten Monopolrenten nur noch begrenzt realisieren. Die Arbeiterschaft verlange zum Beispiel von Firmeneigentümern‚ einen festen Teil der Profite in die technologische Entwicklung zu investieren.13)
Sozialismus in China? — Eine Nagelprobe
In aller Kürze sei rekapituliert, was in der Summe, nachdem alle übrigen Testabfragen oben verworfen werden mussten, die Charakterisierung als ein „Frühstadium des Sozialismus“ am plausibelsten erscheinen lässt:
kein Privateigentum an Boden, Natur und Ressourcen,
ein großer, moderner, strategisch ausgerichteter staatlicher Produktionssektor als „Antreiber“ der (und in partiellem Wettbewerb mit den) Privaten,
ein ebenfalls großer, moderner, strategisch ausgerichteter staatlicher Finanz- und Kreditsektor, unabhängig und währungspolitisch geschützt vor dem internationalen Spekulationssektor,
die chinesischen Kapitalisten haben keinen organisierten Zugang zur politischen Macht, die Arbeiterschaft wird politisch gefördert und in ihren betrieblichen Forderungs- und Mitbestimmungs-Aktivitäten politisch unterstützt und organisiert,
soziale Mobilisierung und artizipation auf Arbeits- und Wohnebene,
große politische Bedeutung der Willensbildungsprozesse in den sozialen Medien,
Rückverteilungspolitik und entsprechende Steuerpolitik,
Sozialisierung und „sharing“ von IT-Infrastrukruren und IT-Diensten, aller Informationen, offene Informationsflüsse,
umfangreiche und wachsende physische Sharing-Ökonomie,
massive Ökologisierung aller nationalen und internationalen Entwicklungs- und Aktivitätsbereiche,
Steuerung der realökonomischen Nützlichkeit von Investitionen: gegen „irrationale“,
rein spekulative oder ideologisch-relevante Investitionen,
öffentliche Diskussionen über sozial und ökologisch verantwortliche Ethik und Verhaltensweisen.
Im „Frühstadium des Sozialismus“ ... eines Sozialismus, den wir noch nicht kennen ... der aber nicht der alte, europazentrierte ist
Und so landen wir da, wo China sich offiziell selbst verortet: in einem „Frühstadium des Sozialismus, mit chinesischen Charakteristika“.
In diesem Sinn könnte man vielleicht noch von einem „gemischten“ System sprechen, mit diversen Formen von Eigentum und Besitz, mit verschiedensten Unternehmensformen und Lösungsformen für die Produktionsorganisation und mit Märkten in staatlicher Rahmenplanung.
Es ist hier ein effektiveres Modell vor unseren Augen entstanden, sowohl gegenüber dem niedergehenden neoliberalen Finanzkapitalismus als auch gegenüber dem alten, eurozentrierten Sozialismusentwurf, der überwiegend staatlich und »top down« angelegt war und historisch wenig Möglichkeiten hatte, sich weiterzuentwickeln, der damit, wenn auch unter ungünstigsten äußeren Bedingungen, relativ bürokratisch und wenig dynamisch endete, die Menschen nicht mehr mobilisieren konnte, sondern eher demobilisierte und seit seinem militärisch-finanziellen Niederringen durch den Westen endgültig diskreditiert und tabuisiert werden konnte.
Anders als China heute war das eurozentrierte staatssozialistische Modell nicht frei von der Idee des Modellexports. Auch hier hat China aus der Geschichte gelernt.
Einige Beobachter im Westen sehen die neue Systemherausforderung daher nicht mehr nur mit einer steigenden Attraktivität Chinas in den Entwicklungsländern, sondern auch in den Kernländern des Westens verbunden. 14)
Anerkannt wird dabei zunehmend die Bedeutung Chinas für die Sicherung von Frieden und Sicherheit sowie für technologischen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt.
China ist heute fähig, die jahrzehntelange Diskreditierung und Tabuisierung jeder Idee von realem Sozialismus wieder aufzubrechen, vor allem weil es zeigt, dass Sozialismus im 21.Jahrhundert kein statisches, bürokratisches Armutssystem mehr ist, sondern diesbezüglich den real existierenden Kapitalismus sogar überflügeln und die menschlichen Perspektiven erweitern kann.
Fussnoten 3.Kapitel „Oje, Staatseigentum!“ - Eigentum, Unternehmertum, Sharing Economy: Vielfalt der chinesischen Eigentums- und Unternehmensformen
Seite 360-61
1) Zum Beispiel: Lin 2017.
2) Zum Beispiel: Ll Qiangzhi, „lnstitutional Innovation and Sharing Economy Development“‚ Vortrag auf dem Tianjin Forum »lnnovation and Cooperation«‚ 8.7.2017, mimeo.
3) So ZHANG Xinhong, >>Status and Trends of Chinese Sharing Economy«‚ Vortrag auf dem Tianjin Forum >>lnnovation and Coopera- tion«, 8.7.2017, mimeo.
4) Poppe 2019.
5) Ausführlich kritisch dazu: Peter HO, „In defense ofendogenous, spontaneously ordered development: institutional functionalism and Chinese property rights“‚ Journal of Peasant Studies 40(6), 2013, S. 1087—1118.
6) Zum Beispiel: HO 2013, ebd.; Paddy Ireland, Gaofeng MENG, „Postcapitalist property“, Economy and Society 46(3—4), 201,7 S. 369—397.
7) Die neuere Literatur zur Nutzung von Gemeinschaftsgu"tern (Com- mons) bestätigt, dass die ökonomische Effektivität ihrer Nutzung tat- sächlich von den konkreten Merkmalen der Nutzungsarrangements abhängt, und individualistische Eigentumsrechte in »Märkten« im Großen und Ganzen keineswegs eine Lösung sind.
8) Ireland, MENG 2017, ebd.
9) „Post-kapitalistisches Eigentum“‚ so argumentieren Ireland und Meng (2017), muss tatsächlich nicht nur durch klar definierte kollektive Eigentumsformen charakterisiert sein, sondern ist sehr wohl mit einer großen Breite institutioneller Möglichkeiten vereinbar.
10) Qunyi LIU, »Rethinking Land Reform in East Asia: Egalitarian or lne- galitarian?«‚ Journal of Economic Issues 52(3), 2018, S. 694—716.
11) John R. Commons, Institun'onal economics. [t5 place in political eco- nomy. New York: Macmillan. 2 Bde.‚ Erstveröffentlichung 1934. Neu- auflage: New Brunswick, N.J.: Transaction Publishers, 1990.
12) Zum Beispiel: Yanlong ZHANG, „Rise of Contract: On the Institutional Account ofRural Land Titling in China“, mimeo., Chinese Academy of Social Sciences, Beijing 2018.
13) Zum Beispiel: Fan ZHANG 2018, S. 110 ff.
14) Zum Beispiel: Hardy, Jane, lmani, Yassamin, Zhuang, Beini, „Regional resilience and global production networks in China: An open political economy perspective“, Competition and Change 22(1)‚ S. 63—80.
15) Siehe aber auch ebd.
16) Siehe auch zum Beispiel: „Township and Village Enterprises“; online unter: en.wikipedia.org‚ besucht 27.5.2019.
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