DAS SIEBTE LEBENSJAHR - HERMANN KOEPKE

Das siebte Lebensjahr - Hermann Koepke

Die Schulreife

Verlag am Goetheanum

ISBN 3723509509

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 

Einleitung

Der erste Schultag

Wie die Sonnenblumenkernlein auf die Erde kamen — Trennung vom Elternhaus — Erster Rückblick: Gerade und Krumme — Die Geraden als römische Zahlen - Alle Zahlen sind in einem Holzstecken — Das erste Wort: ICH — Zweiter Rückblick: Typische Missverständnisse — Wo ist rechts, wo links? — Rechts-links-Symmetrie — Dritter Rückblick: Mund-M und Wellen-W — Buchstabengeschichte vom R

 

Liebe Eltern!

Die Rechts-links-Symmetrie in der ersten Klasse

Vertrauen — Der unsichtbare Brief — Von den bildenden Kräften — Der Inkarnationsvorgang in der menschlichen Gestalt und im Spiegel der plastischen Kunst — Symmetrieformen in der Körperbildung und im Unterricht — Legasthenie — Ereignisse der sechziger Jahre — Vertrauen in die Autorität — Echo von Elternseite: Gespräch statt Vortrag — Vierter Rückblick: Die runde Gustine zählt zusammen — Der dünne Ernst hat immer weniger — Fünfter Rückblick: Die erste schriftliche Rechnung — Sechster Rückblick: Gedankenwahmehmung im Rechenunterricht

 

Liebe Lehrer, liebe Eltern!

Ein Elternabend in Gesprächsform

Grenzen — Konsequenzen — Strafen — Aus der Gesprächsarbeit: Ein Hund folgt, ein Kind folgt — Strafen? — Wie erreicht man ein Kind? — Äussere Massnahmen, innere Nachwirkungen — Rollenverteilung Mutter-Vater - Überforderung, Unterforderung — Kinderkrankheiten als Helfer — Ämter bestimmen und einüben — Öffnung für das Thema Grenzen — Echo von der Elternseite: Das Problem Bildeschirm — Siebter Rückblick: Heinzelmännchen in der Klasse — Problemlösungen unter Kindern — Achter Rückblick: Karl der Teiler — Ein Spiel auf englisch — Neunter Rückblick: Multiplikata die Zauberin — Die Zahlenreihen in Sternformen — Einmaleins mit Eurythmie

 

Besuch bei Monikas Eltern

Gedankensprache versus Bildsprache — Eine wichtige Unterscheidung — Wandlung als Voraussetzung zur Selbstwahrnehmung — Der nach aussen geschärfte Blick und die Blindheit für das Wesenhafte — Vermählung als Zusammenklang von Geist und Seele — Der Sinn der Sinnesentwicklung — Zehnter Rückblick: Kinder entdecken die Zahlenreihen — Wieso es die kleinen Buchstaben gibt — Elfter Rückblick: Zehnerstern für die Dreierreihe — Schulausflug — Zwölfter Rückblick: Erd-, Wasser-‚ Luft- und Feuerproben

 

Haben Kinderkrankheiten einen Sinn?

Temenuga Staneva, Fachärztin und dipl. Heileurythmistin

Der Ablösungsprozess des Kindes von den Eltern — Gemeinsame Merkmale der Kinderkrankheiten — Substantielle Überwindung des vererbten Modell-Leibes — Eiweissabbau und Fieber — Impfungen und die Folgen — Im Gespräch mit den Eltern: Die erste Fiebernacht — Eine Masernimpfung und ihr Verlauf — Therapeutische Massnahmen — Ernährung — Ansteckungsgefahr — Kinderkrankheiten und Pädagogik


Der Inkarnationsvorgang und die Linkshändigkeit 

Berühmte Linkshänder — Die drei Dimensionen im Raum und die drei Kräfte der Seele — Die psychomotorische Entwicklung — Die Lateralisierung — Wiederholungsphasen — Trennung und Steigerung — Die Tat des Perseus — Auf eine Verzögerung eingehen — Mögliche Ursachen für die Linkshändigkeit — Aussagen Rudolf Steiners zur Linkshändigkeit

 

Schulreife

Die Doppelaufgabe des Kindes, Wachsen und Lernen, fordert zwei verschiedene Beurteilungen - Der Arzt untersucht die Schulreife: Gestaltwandel, Zahnbildung und Zahnwechsel, Stand der Lateralisierung, Alter, Gesundheit — Der Lehrer beurteilt die Schulfähigkeit anhand verschiedener Übungen — Arzt, Lehrer und Eltern im Gespräch — Interpretation verschiedener Fälle — Ein Schema: Schulreife, Schulfähigkeit und Schuleintritt - Ist der Lehrer reif für das Kind?

Dreizehnter Rückblick

In eigener Sache — Wochenrückblicke als Erziehungshilfe

Anmerkungen und Literatur

 


Vorwort

Sarah ist der erfundene Name für ein Kind, dem wir helfen wollen. Sarah muss eine Klasse wiederholen. Der Beziehungsabbruch belastet sie. Noch als Erwachsene spricht Sarah mit niemand darüber; sie meint, sie müsse sich deswegen schämen...

So bedauerlich und falsch das ist — ein ähnliches Schicksal lastet auf sehr vielen Menschen. Darum die Frage: Wäre es Sarah mit der Waldorfpädagogik besser gegangen?


Auf was achtet die Waldorfpädagogik?

Was würde Sarah am ersten Schultag erwarten? 

Warum Bilder, immer Bilder?

Haben Kinderkrankheiten einen Sinn?

Links oder rechts?

Schulreif oder nicht?

Warum ist das siebte Jahr so entscheidend?

Gesichtspunkte und Anregungen zu diesen und weiteren Fragen will dieses Büchlein geben. Es will eine Hilfe für Kinder sein, die in die Situation von Sarah kommen könnten.

Was Sarah beim Übergang vom Kindergarten in die Schule erlebt, wirkt prägend für alle Schwellen, die sie in ihrem weiteren Leben überschreitet — erleichternd oder erschwerend.

Dornach, Sommer 1996 Hermann Koepke

 

 

Einleitung

Liebe Eltern,

am Montag ist der so ersehnte erste Schultag. Da beginnt eine wunderbare Wanderung. Sie fragen: Wohin? Der Weg führt durch ein breites, fruchtbares Tal mit einem rauschenden Bächlein, Bäumen, Wiesen und Tümpeln‚ Gezweig und Sonne, viel Wind und einem funkelnden Sternenzelt in der Nacht. Es sei ein Zauberland, hört man sagen; was dort gesät werde, trage ein Leben lang Früchte.

„Wievielmal noch schlafen?” kichern da und dort meine künftigen Reisebegleiter in ihren Bettchen, falls man sie überhaupt noch reinkriegt. Und jetzt können die lustigen Betthüpfer es bald an den Fingern einer Hand abzählen: Noch dreimal schlafen, noch zweimal schlafen, noch... Das Reisefieber ist riesengross. Es wird sicher sinken, wenn der erste Schultag vorbei ist und die erste Schulwoche hinter uns liegt.

Auch für Sie, liebe Eltern, ist es ein grosser Schritt. Ich möchte Ihnen gerne einen Einblick geben, was am Montag auf Ihr Kind wartet, was wir in der ersten Schulstunde machen und worüber wir uns so gewundert oder so gelacht haben. Darum schreibe ich für Sie Rückblicke. Ausserdem werden wir uns an Elternabenden und bei Hausbesuchen kennenlernen.

Es liegt mir viel daran, dass Sie einen ganz unmittelbaren Einblick in unser Tun und Treiben gewinnen. Ich freue mich auf den Montag, wenn ich den Kindern meine allererste

Geschichte erzählen kann.

 

Der erste Schultag

Die Kinder haben sich von der Hand ihrer Eltern gelöst und stehen in der vordersten Reihe. In ihren Gesichtern ist grösste Erwartung. Was wird jetzt der Lehrer sagen?

„Liebe Kinder, hier vorne seht ihr diesen schönen Strauss mit Sonnenblumen. Wie er leuchtet! Wisst ihr, woher die Sonnenblumen alle kommen?”

„Aus der Migros?“ „Aus dem Coop?” — „Aus der Gärtnerei!“

„Ja, Vielleicht hast du gesehen, dass ich heute früh in der Gärtnerei war, wo ich sie geholt habe. Das stimmt schon. Aber woher hat sie die Gärtnerei?”

„Sie sind auf dem Feld gewachsen .. . ”

„Ja, auch da habt ihr recht. Sie waren heute früh noch auf dem Feld. Aber wie sind sie auf das Feld gekommen? Das Feld war ja einmal leer. — Seht, das geschah so: Da gab es einmal eine grosse Muttersonnenblume. Und in dieser Muttersonnenblume waren ganz viele Kernlein drinnen, so viele Kernlein, wie ihr hier Kinder seid, und sogar noch mehr.

Ein paar Sonnenblumenkerne waren schon ganz dunkel, weil sie die Sonne so gebräunt hatte. Sie sassen zuoberst und konnten es nicht erwarten, aus der Sonnenblumenmutter hinauszuspringen.

‚Du, hallo du." schimpfte einer von ihnen. ‚Mach dich doch nicht so dick.‘ Aber der andere Kern erwiderte: ‚Was, nicht ich, du bist viel zu dick. Darum gibt es so wenig Platz.’ Und jetzt fingen sie gleich an zu kämpfen, und die Kernlein, die darum herum sassen, halfen mit. Da ging es hin und her.

Hoppla, war einer draussen. Und hoppla, noch einer und dann noch zwei aufs Mal: hoppla, hoppla! Das hatte das Kernlein Sorgenvoll alles mitangesehen.

Uh, es sah, wie eines um das andere in die Tiefe stürzte, und es machte die Augen zu, ganz zu. Es war ihm schwindelig, wenn es nur daran dachte, dass sie alle in dem Abgrund verschwunden waren, wo hinunterzusehen es sich schon gar nicht traute. Anders war es bei der Familie Sonnenfroh; die lachten alle. Sie wären nur zu gerne auch in die frische Luft hineingesprungen, wenn sie nur, ja, wenn ... wenn es nicht so weit hinuntergegangen wäre. Von so hoch springen, da gehört schon Mut dazu. Meint ihr nicht auch?

Als nun einmal der Wind die Blüte so schön hin und her wiegte, da nahmen sie sich ein Herz. ‚Kommt, gebt einander die Hände.‘ riefen sie. ‚Jetzt wollen wir fliegen’, und sie flogen in hohem Bogen durch die Luft bis auf den Boden, und da schlugen sie noch ganz viele Purzelbäume.

Das Kernlein Sorgenvoll hatte das wieder mitangesehen, und wieder hatte es sich entsetzlich gefürchtet. ‚Nein, da will ich nicht hinunterspringen. Um Himmels willen, nein.‘ Kaum hatte das Kernlein so gedacht, da kam ein schwarzer Vogel und krallte sich in der Blume fest. Er blickte zuerst mit dem einen Auge nach dem Kernlein Sorgenvoll und dann machte er pick, dann blickte er mit dem anderen Auge und machte pick. Pick, pick machte er, denn er wollte das kleine Kernlein herauspicken. Das hielt sich aber nach Leibeskräften fest, so fest, als es nur ging. Es biss auf die Zähne. ‚Nein, nur nicht von einem Vogel verschluckt werden, nein!’ Zum guten Glück flog der Vogel bald wieder davon, und das kleine Kernlein war gerettet.

‚Also, was ist das für ein Sturm’, wunderte sich die Familie Kugelrund, die nämlich auch noch in der Blume wohnte. ‚Da kann man ja gar nicht ausschlafen. Fast wären wir noch herausgefallen, bei dem Geschaukel ...’ ‚Oder es hätte uns noch der Vogel verschluckt’, sagte ein anderes Kernlein. ‚Wenn’s weiter nichts ist, im Vogelmagen hat man’s wenigstens warm ...’ ‚Aber nein’, widersprach noch ein anderes, und so redeten sie, bis sie wieder eingedöst waren. Und sie sassen ganz unten, wo aller Saft in der grossen, runden Blüte zusammenlief und gut schmeckte.

Da flog plötzlich etwas durch die Luft. Was war das? Es war das kleine, ängstliche Kernlein, dem der schwarze Vogel so arg zugesetzt hatte. Jetzt war es plötzlich doch auf die Erde gesprungen, ganz aus eigenen Stücken.

Aber warum? Es hat es niemandem gesagt. Aber wahrscheinlich hatte es davor Angst, dass der Vogel noch einmal kommen könnte. Da hat es sich wohl einen Ruck gegeben.

Bald danach fing es an zu regnen. Das kam der Familie Kugelrund ganz gelegen. ,Tatü, tata — regnet’s, dann fährt die Schneckenpost.’ Und so rutschten sie alle, eins ums andere, an dem glitschigen, rutschigen Stengel hinunter.

Das ging so lange, bis alle unten waren. ‚Was wollen wir nun da unten tun?’ berieten die Kernlein.

‚Wir wollen wieder hinauf." riefen sie, aber das war leichter gesagt als getan. Wie sollten sie denn da wieder hinaufkommen? ‚Ich hab’s’, rief eins von den schwarzgebrannten. ‚Wir machen auch eine grosse Sonnenblume. Wir müssen dazu nur den Kopf ganz tief in die Erde hineinstecken. Kommt."

Und so machten sie es, und es wurden lauter schöne Sonnenblumen daraus, ganz leuchtende. Und seht, liebe Kinder‚ die stehen jetzt vor euch.

Aber ganz alleine haben sie es doch nicht gekonnt. Sie haben Hilfe bekommen. Wer hat wohl den Sonnenblumenkernlein geholfen? Darüber werden wir aber erst morgen sprechen; so könnt ihr es euch gut überlegen bis morgen."

Nun ruft der Lehrer die Kinder einzeln mit ihrem Namen auf, gibt jedem Kind die Hand und schenkt ihm eine Sonnenblume. Alle Kinder halten jetzt eine Sonnenblume in der Hand.

„Jetzt will ich mal sehen, was ihr schon könnt“, sagt der Lehrer und nimmt ebenfalls eine Sonnenblume in die Hand. „Zuerst wollen wir den Kopf in die Erde stecken.” Er geht in die Hocke und senkt den Kopf. Alle Kinder machen es ihm nach.

„Jetzt wollen wir die Blumen wachsen lassen." Der Lehrer richtet sich langsam auf, und die Kinder richten sich mit ihm langsam auf.

„Wie können wir es machen, dass die Blumen noch ein bisschen grösser werden?” fragt er.

„Wir können noch die Hände strecken”, sagt eines der Kinder, und nun wachsen die Sonnenblumen höher und höher, bis es nicht mehr höher geht. Grosse Sonnenblumenlichter leuchten im Klassenzimmer, und darunter strahlen die Kindergesichter.

„Liebe Eltern, der erste Schultag ist etwas Schönes, aber auch etwas Schmerzliches. Ich weiss, wie es ist, wenn von nun an Ihr Kind jeden Morgen aus dem Haus geht. Der Sonnenschein ist weg, und das macht einen traurig.

Aber geradeso wie die Sonnenblumen durch Ihre Kinder hier im Klassenzimmer gewachsen sind, geradeso werden auch Ihre Kinder wachsen und durch ihre Schaffensfreude immer mehr Selbständigkeit und manches mehr erlangen.

So möge der Schulweg zu einem Lebensweg werden. Zu einem Lebensweg, auf dem auch für Sie manche Frucht reifen wird, auch wenn die Sorgen uns immer begleiten werden.”

 

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Besuch bei Monikas Eltern

„Wir schätzen es sehr, dass Sie neben dem Schule-Geben und der Elternarbeit, die jetzt so schön in Gang gekommen ist, sich noch zusätzlich Zeit für ein privates Elterngespräch genommen haben.” Mit diesen Worten lud der Vater den Lehrer ein, es sich gemütlich zu machen, während die Mutter Tee brachte.

„Wir haben nämlich ein Problem”, fuhr der Vater fort, „das uns manch unruhigen Abend beschert hat. Es ist vielleicht unser eigenes, hausgemachtes Problem. Wir sehen ja, dass unsere Monika bei Ihnen gut gedeiht, und doch haben wir immer wieder Schwierigkeiten mit manchem, was sie von der Schule heimbringt oder wir in den Rückblicken lesen und wohl auch nicht richtig verstehen.”

Der Lehrer wartete ab, bis die Mutter den Tee eingegossen hatte. „Um was handelt es sich genau?”

„Darf ich frei von der Leber weg sprechen?” bat der Vater. „Da ist dieser nicht ganz konkrete Unterrichtsstil, dieses Abgelöste, auch irgendwie Unwirkliche in dem, was Sie den Kindern erzählen, so erleben wir es eben. Auch bleiben Dinge, wie zum Beispiel das Fernsehen, ungeklärt, das heisst ohne allgemeingültige Beschlüsse so vage als Problem ohne Lösung stehen. Am meisten machen uns aber Ihre Erzählungen zu schaffen, wenn ich mich ganz offen äussern darf.”

Ein glockenhelles Lachen durchklang unvermittelt die Gesprächsrunde. „Mein guter Mann”, beschwichtigte die Mutter, „du bist ein Advokat. Aber mit der Juristerei kannst du die Märchenwelt doch nicht erobern.” Und wieder war es ihr herzhaftes Lachen, das die Strenge und Schwere ihres Mannes wohltuend ausglich; es war der Klang eines Menschen, der wie man sagt — mit sich und der Welt einig ist.

„Erzählungen?“ fragte der Lehrer vermittelnd.

„Ja. Sie erzählten den Kindern das Märchen vom Meerhäschen", fuhr der Vater fort, der sich von seiner Frau offensichtlich kaum beeindrucken liess. „Da kommt eine Prinzessin vor, die in ihrem Turm zwölf Fenster hat, durch die sie — durch jedes Fenster besser — alles sehen kann. Nur wer sich vor ihr verstecken kann, den wird sie heiraten. Wen sie aber findet, dem wird ohne Erbarmen der Kopf abgehauen und auf einem Pfahl vor dem Schlosseingang aufgespiesst.”

Der Vater warf dem Lehrer einen kritischen Blick zu: „Dessen nicht genug, kommen schliesslich drei Brüder, deren zwei ebenfalls enthauptet werden, wohingegen der Jüngste, der sich erfolgreich versteckt, diese Prinzessin heiratet. Ich bitte Sie, zu welchem Hochzeitsfest wird da geladen!”

Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf: „Wie kann der Jüngste danach begehren, die Mörderin seiner eigenen Brüder zu heiraten!? Sehen Sie, da stehen wir, ganz ehrlich, vor einem echten Problem. Meine Frau sagt, sicher ganz zu Recht, das sind eben Märchen... Aber so recht wissen wir dann beide nicht mehr weiter. — Ich meine, die Moralvorstellungen, die in diesem Märchen vorkommen, verbieten doch eigentlich solche Erzählungen. Bedenken Sie: Wieviel Greuel, wieviel Roheit sehen wir jeden Tag im Fernsehen, und wieviel Brutalität ist in den Illustrierten abgebildet, oft genug auch für Kinder zugänglich. Muss da noch mehr dazukommen?“

„Mein Mann regt sich jedesmal auf, wenn wir diese Sache besprechen”, seufzte die Mutter. „Aber wir sollten in diesem Punkt tatsächlich einmal Klarheit gewinnen. Warum erzählen Sie denn überhaupt solche Märchen?”

Der Lehrer rückte sich auf dem Stuhl zurecht. Er wusste nur zu gut, wie schwer es sein konnte, sich mit Menschen, die die Bildsprache nicht verstehen, aber um so besser in der Gedankensprache argumentieren können, zu verständigen. Schliesslich fragte er: „Wie hat denn Monika dieses Märchen heimgebracht? Hat sie sich über die Prinzessin entrüstet?"

„Keine Spur von Entrüstung! ” empörte sich der Vater. „Im Gegenteil: Sie malte diese Gruseleien noch. Hier, sehen Sie sich nur mal diese Bilder an! Die Köpfe auf den Stecken, und dahinter, das ist wohl das Schloss. Es schaudert mich.“

„Und hier habe ich die Frage: Was geht in meiner Tochter vor, wenn sie solche Geschichten hört? Wie sehen Sie das als Lehrer?" Der Vater schwieg.

„Ich glaube, zuerst müssen wir einmal Ereignisse in der äusseren Welt von den Märchenbildern trennen. Diese beiden Bereiche darf man nicht ohne weiteres vermischen ..."

„Wie meinen Sie das?” unterbrach der Vater.

„Ich meine, dass Vorgänge in meiner Seele einer Innenwelt angehören, in der andere Gesetze als in der Aussenwelt gelten ...”

„Also Sie meinen, dass man wohl darüber nachdenken kann, einen Menschen grausam zu töten, solange man es nicht ausführt... Verstehe ich Sie richtig?”

„Nein. Ein Märchen ist kein Kriminalroman. Es ist etwas ganz anderes.”

„Was ist es denn?” forschte der Vater.

„Märchendeutungen gibt es viele; mir scheint es am sinnvollsten, alle Gestalten, die in einem echten Märchen vorkommen, in der eigenen Seele zu suchen.”

„Wie? Sie wollen sagen, dass so eine Prinzessin auch in Ihnen lebt!?” Der Hausherr war perplex.

„Ja — natürlich nicht nur in mir, im Grunde genommen in jedem Menschen.”

Der Vater lächelte den Lehrer ratlos an.

„Mehr noch: Die Prinzessin und die erschlagenen Prinzen, die unglücklichen Brüder und der Jüngste als Glückskind, sogar die Tiere, die der Jüngste jagt, aber nicht erlegt, und die ihm dann helfen, sich vor der Prinzessin zu verstecken, alle diese Gegensätze leben in mir. Auch wenn ich nicht darauf achte.”

„Auch Fuchs, Quelle, Meerhäschen und alles andere ...?”

„Auch der Fuchs und die Quelle im Wald gehören zu mir. Davon bin ich ja ausgegangen. Aber ich gebe zu, dass ich das alles nicht für ein Abfragespiel zur Verfügung habe. Ich muss mich erst darauf besinnen. ”

„Und Sie finden dann die Prinzessin in sich, die die Köpfe abschlägt?”

„Jedesmal, wenn ich ein richtendes — oder vernichtendes Urteil über einen Menschen abgebe, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, mich liebevoll, verständnisvoll in ihn hineinzuversetzen, schlage ich einen Kopf ab.”

Jetzt verschlug es dem Vater die Rede. — Die Mutter zögerte: „Aber die Prinzessin hat doch diese zwölf Fenster in ihrem Turmzimmer ..."

„Die zwölf Fenster sehe ich als die zwölf Tore meiner Sinne, die mich mit der Welt verbinden. Aber meine Weltverbundenheit hat zwei Seiten: die eine Seite ist die Welt, die andere bin ich selbst. Immer wenn ich herzlos in die Welt hinausschaue — eigentlich ohne dass ich selber dabei wirklich beteiligt bin —, kann ich zwar die Dinge immer schärfer und schärfer sehen — mit Hilfe von Mikroskop oder Teleskop —, so wie die Prinzessin von Fenster zu Fenster geht, aber ich tue es dann ‚rein wissenschaftlich’, ohne eine wirklich innere Verbundenheit. Dadurch bleibt mir etwas verborgen."

„Die Wissenschaft verlangt von uns, dass wir unsere Beobachtungen nicht subjektiv einfärben ”, wehrte der Vater ab.

„Die Verobjektivierung der Welt hat einen grausamen Preis. Auf den Pfählen sind 97 Häupter aufgespiesst."

„Wie meinen Sie das?”

„Dadurch, dass wir die ,Aussenwelt’ zu einem Objekt gemacht haben, haben wir sie auch mit der Zeit ohne eigene Anteilnahme behandelt. Etwas zu einem Objekt machen, das heisst doch, sich selber ganz herauszuziehen und dann willkürlich damit zu experimentieren. Bedenken Sie, wie grausam zum Beispiel viele Tierversuche durchgeführt werden, wohin die Embryonenforschung strebt, und vieles, vieles mehr. Alles das hat seinen Preis. Die Märchen zeigen immer die Konsequenz, die sich aus unserem Handeln ergibt. Die aufgespiessten Köpfe sind ein grausamer Tribut, aber das Bild hat für mich viel Wahrheitsgehalt.

Oder lassen Sie uns darüber nachdenken: Woraus sind die Umweltschäden entstanden? Die Naturwissenschaft hat uns gelehrt, zu verobjektivieren. Das haben wir auch mit der Erde gemacht: sie ist Objekt geworden. Dadurch aber betrachten wir sie nicht als mit uns verbunden und tun mit ihr, was wir nicht mit uns tun würden. Die Umweltschäden sind Folgen unseres Handelns; nicht aufgespiesste Köpfe, aber ebenfalls Zerstörung tritt uns entgegen.”

„Jetzt muss ich sehen, ob ich Sie richtig verstanden habe. Wollen Sie damit sagen, dass die Prinzessin der herzlose, stolze Wissenschaftler in uns ist, der sich mit nichts verbinden will und alles erforschen kann, und dass diese Haltung der Grund für so viel Brutalität und Zerstörung ist?”

„Siehst du”, unterbrach die Mutter, „ich betonte immer, man darf die Märchen nicht so eng auslegen. Sie haben einen ganz anderen, viel tieferen Sinn, den man nur finden muss.” Und zum Lehrer gewandt: „Bin ich froh, dass Sie gekommen sind! Wir sind mit diesem Märchen einfach nicht zurechtgekommen. Man kann es ja tatsächlich ganz anders verstehen. ”

„Eigentlich erschüttert mich das, was Sie da sagen. Das heisst ja, dass die Kinder schon mit unseren ganz grossen und unlösbaren Problemen durch die Märchen konfrontiert und belastet werden. Ist das nicht viel zuviel, Viel zu früh für sie?“ grübelte der Vater vor sich hin.

„Ja, aber es ist doch ein Märchen, lieber Mann, und in einem Märchen bleiben die Spannungen ja nicht so stehen. Es gibt ja das oft belächelte gute Ende. Unser Alltag kennt oft nur die Spannung, selten die Lösung. Die Märchen sind viel umfassender. Monika fiebert förmlich der Lösung entgegen, und dann ist sie glücklich und umarmt mich. Manchmal flüstert sie mir dann noch etwas ins Ohr: ,Gell, das ist aber gut, dass es den Fuchs gegeben hat’, sagte sie neulich, und ich bestätigte ihr das: ‚Ja, der weiss doch die rechten Pfiffe.‘ — Nachträglich hatte ich allerdings wieder diese Ungewissheit, die ich oft eben habe bei den Märchen, weil ich nicht weiss, was dahintersteht. Der Fuchs ist ja doch nur schlau, und Schlauheit für sich genommen ist doch keine gute Kraft.”

„Aber der Fuchs weiss den Weg zu der Quelle im Wald, in die sie beide untertauchen. Der Fuchs, als er aus dem Quell herauskommt, ist ein Marktkrämer, der Jüngling, als er auftaucht, ist ein Meerhäschen”, erklärte der Lehrer.

„Das verstehe ich wieder nicht", unterbrach der Vater.

„Es ist nicht zu verstehen. Wohl aber kann man es suchen, suchen im eigenen Innern.” Der Lehrer wandte sich zum Vater: „Wo ist die Quelle, in der eine Verwandlung möglich wird?”

„Meinen Sie das Herz?" fragte die Mutter.

„Aber warum diese Verwandlungen? Wieso wird der Fuchs zu einem Krämer, und wieso wird der Jüngling ein Meerhäschen?” rätselte der Vater. - „Und dann diese merkwürdige Überkreuzung: Das Tier bekommt ein menschliches Antlitz, der Mensch ein tierisches. Gibt es so etwas im menschlichen Innern? Können Sie das wirklich begreifen?”

Der Lehrer war erstaunt und gleichzeitig erfreut über die Reaktion der Eltern. Offensichtlich hatten sie Schwierigkeiten, besonders der Vater, der Seelenwelt eine Realität zuzuschreiben. Und doch schien es möglich, ihnen ein Tor in diese andere Welt zu öffnen.

Nun war aber die Frage nach Fuchs und Krämer, Jüngling und Meerhäschen gestellt. Der Lehrer überlegte, aber die rechte Antwort wollte sich ihm nicht so schnell ergeben.

Seine Verlegenheit spornte indessen die Mutter um so mehr an. „Ich weiss nicht”, sagte sie, „ob ich diese Gestalten so gut interpretieren kann, wie Sie es können. Aber ich meine, dass der Fuchs allemal für Schlauheit steht. Mindestens weiss er so gut wie heute ein jeder Marktkrämer auch, dass wir mit dem von Ihnen vorhin genannten Umweltproblem keinen Schritt weiterkommen, wenn wir nur so weiterwirtschaften, statt unsere Einstellung zum Leben zu ändern. Der Fuchs ist ein ganz vernünftiger Marktkrämer, sozusagen die andere Seite des Pelzgesichtes. Ist so gesehen der Marktkrämer am Ende das menschliche Antlitz der Schlauheit?” Der Vater nickte, ihm gefielen die Ansichten seiner Frau.

„Und der Fuchs weiss genau, dass nur das Herz unsere Lebensquelle ist”, fuhr die Mutter fort. „Aber das andere ist mir ganz unverständlich: Wieso verwandelt sich der Jüngling in ein Meerhäschen? Wissen Sie das? Was ist das überhaupt für ein Tier, ein Meerhäschen?“

„Ich nehme es als ein Fabeltier”, antwortete der Lehrer. „Es versteckt sich unter dem Zopf der Prinzessin. Diese sieht nur durch alle ihre Fenster hinaus, nicht aber in sich hinein. Sie ,durchschaut’ sich nicht, hat also keine Selbstwahrnehmung.”

„Aha! “ rief der Vater aus. „Jetzt sehe ich die Schlauheit des Fuchses. “ — „Und ich ”‚ wandte sich die Frau ihrem Mann zu, „hatte Bedenken, als ich Monika die richtigen Pfiffe des Fuchses so pries. Jetzt ist mir aber klar, worin seine richtigen Pfiffe bestehen: Er führt den Weg zur Waldquelle. Das muss ich ihr noch einmal sagen. Das ist sein Meisterstück, dass er den Quell kennt, dass er den kennt und mit dem Jüngling darin eintaucht. Das ist so herzhaft und so unsentimental.”

Die Mutter schenkte Tee nach und versuchte, den Faden wieder aufzugreifen. „Vieles ist mir jetzt an dem Märchen aufgegangen, und ich glaube, es ist wichtig, dass wir so eine Gestalt wie die Prinzessin auch ins Auge fassen. Sie wartet ja auch in mir auf ihre Erlösung. Dass sie sich selber nicht durchschaut und wie sich das Meerhäschen unter ihrem Zopf versteckt, ist das nicht wunderbar ins Bild gesetzt? Aber jetzt lässt es mir keine Ruhe mehr, warum der Jüngling dieses Fabeltier werden muss. Da geht mir noch gar kein Licht auf. ”

Es entstand eine Pause, in der alle nachsannen.

„Vielleicht vermag ein Fabeltier mehr als ein gewöhnliches Tier“, überlegte der Lehrer. „Das gewöhnliche Tier gleicht eher dem ichlosen Zustand, in den wir abgleiten, wenn wir uns ganz unseren Instinkten, Trieben und Begierden überlassen. Ein Fabeltier ist etwas anderes. Es kommen mir die Fabeltiere in den Bögen der Kirchenportale in den Sinn. Ich meine die Gestalten, die in dem Bogengewölbe hinter den Evangelisten zu sehen sind: Adler, Löwe, Stier und Engel. Sie alle sind als geflügelte Wesen dargestellt. Der geflügelte Löwe, die geflügelte Kraft des Stieres, das geflügelte Tier als Adler, der schon geflügelt ist — vielleicht ein göttlicher Gedanke —, und der Engel oder geflügelte Mensch. — Fabeltiere weisen auf Verwandlungen des nur Natürlichen in etwas, was sich über die Natur erhebt.

Der Jüngling, als Meerhäschen verwandelt, ist für die Prinzessin etwas ganz Unbekanntes. Zwar sieht sie das Meerhäschen in seinem Pelzgewand, aber sie erkennt nicht sein Inneres. Auch nicht dann, als sie von Fenster zu Fenster geht. Ihr Blick wird nur nach aussen schärfer und schärfer. Sein Wesen bleibt für ihre Sinne, die nur auf das Sinnliche gerichtet sind — ohne den Anteil der Sittlichkeit —, nicht wahrnehmbar. Mit diesem Wesen, das ihrer Natur unbekannt ist, vermählt sie sich, so wie es die Seele tut, wenn sie sich dem Geiste zuwendet, statt nur dem Leibe zu dienen. ”

„Dann hätte das Märchen einen unglaublich tiefen Sinn. Ein ganzes Leben wäre darin vorgezeichnet, als Ideal menschlichen Strebens. Das kann doch nicht durch ein Märchen allein in einem Menschen veranlagt werden! Das Märchen kann doch nicht mein Kind auf einen solchen Weg bringen! Wo ist der Zusammenhang? Wie wirkt so ein Märchen auf unsere Monika? Können Sie uns das sagen?” fragte der Vater.

„Durch das Märchen werden die Sinne — durchgeistigt. Durchgeistigt wie die Prinzessin, die den Jüngling heiratet”, versuchte der Lehrer einzuwerfen.

„Die Sinne müssen durchgeistigt werden?” überlegte die Mutter. „Wenn sie nicht leibgebunden bleiben sollen ...”

„Wäre das der Sinn des Märchens?“ forschte die Mutter weiter.

„Und der Sinn der Sinnesentwicklung”, bekräftigte der Lehrer. „Die Sinne aus dem Körper zu lösen, in dem sie wie die stolze Prinzessin durch die Nachahmungsfähigkeit verwunschen und gefangen sind, das gelingt nur, wenn wir sie in einen neuen Zusammenhang stellen können: den geistigen. Und darin liegt ja die Aufgabe für uns alle, Lehrer und Eltern: Wir bringen dem Kinde das Geistige näher durch — das Bild.”

„Dann wäre das Märchenbild oder überhaupt Bilder Zauberei. Ist das richtig?” Der Vater sah herausfordernd auf den Lehrer.

„Ich will kein hochgeistiges, sondern ein alltägliches Beispiel suchen”, überlegte der Lehrer. „Nehmen wir dieses:

Wenn die Erstklässler zum ersten Mal in die Schule kommen, haben sie noch nicht gelernt, sich zu melden. Auf eine Frage antworten sie alle zusammen. Wie bringe ich nun den Gedanken des Sichmeldens, der zwar einen sehr alltäglichen, aber eben doch einen Gedankeninhalt — etwas Geistiges — hat, dem Kinde näher? ‚Du musst dich melden, du darfst nicht reinreden!’ Derlei Ermahnungen und Erklärungen helfen sehr wenig. Aber ein Bild, noch so einfach, es hilft dem Kinde augenblicklich:

‚Wenn du etwas sagen willst, so sagt es dein Mund deinem Finger, und dein Finger, der zeigt es dann mir. Du brauchst ihn nur in die Luft zu halten, dass ich es sehen kann.’ So, wie das Kind dieses Bild ins Tun umsetzen kann, so haben Bilder ganz allgemein die Eigenschaft, dass sie tätig erlebt werden und darum über die Phantasie den Willen beflügeln. Das sind die geflügelten Fabeltiere, die das Kind aufnehmen kann. Sie bleiben bei ihm, wie der geflügelte Löwe und der geflügelte Stier bei den Evangelisten bleiben.“

„Da brauchen Sie ja eine eigene Bildersprache für Ihre Klasse”, verwunderte sich der Vater.

„Für alles! Alles, was das Kind wirklich aufnehmen soll, braucht Bilder. Auch das Rechnen braucht diese Bilder. Sie haben ja von Gustine und Ernst, Karl dem Teiler und Multiplikata schon in den Rückblicken gelesen. Die Bilder bilden das Kind, nicht meine Erklärungen.” 

„Jetzt ist mir' auch Ihr Unterrichtsstil klargeworden”, sagte die Mutter mit innerer Bestimmtheit. „Wir Eltern verstehen eben oft nicht, warum Sie dem Kinde nicht einfach etwas ganz genau erklären. So haben wir den Eindruck, dass zum Beispiel im Rechnen etwas verschwommen ist, das für das Kind aber wohl gerade dadurch, dass Sie dafür ein Bild geben, erst begreiflich wird.”

„Trotzdem ist es mir noch ein Rätsel und ein richtiges Hokuspokus. Es ist mir nämlich einfach nicht klar, wie Sie das in unsere Monika hineinbringen. Verstehen Sie? Wie kommt Monika dazu, dass sie alle die Märchengestalten und Vorgänge als etwas aufnimmt, was in ihrem Inneren vor sich geht? Wie bewerkstelligen Sie das?” Der Vater lehnte sich zurück.

„Ich bewerkstellige gar nichts, das Kind tut es ganz von alleine. Es lebt ja noch in der Nachahmung. Schauen Sie doch die Bilder an, die Monika von dem Märchen gemalt hat. Das ist schon in ihrem Inneren. Es sind keine ‚Nachrichtenbilder aus der Tagesschau’, wo etwas Grausames passiert ist. Das ist die Verwechslung, die uns Erwachsenen immer wieder unterläuft. Und wir sollten darum darauf achten, Märchenbilder nicht so zu malen wie ein Foto! Wenn Monika das Märchen hört, lebt es in ihrer Seele, sie malt Seelisches.

Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass ein Erstklässler sich noch nicht so erlebt, dass er von der Aussenwelt völlig getrennt ist. Was das Kind in der Aussenwelt sieht, schwingt und klingt auch in seiner Innenwelt. Das sehen Sie im kindlichen Spiel: Das Kind nimmt ein Holz- stück, und es ist ein Flugzeug, ein Haus, ein Auto oder was Sie wollen. Immer spiegelt sich auch noch die Innenwelt darin. Wie schrieb doch Jean Paul so schön: Gebt einem kleinen Kind einen dürren Zweig, und es wird mit seiner Phantasie Rosen daraus hervorspriessen lassen!

Das Kind erlebt das Märchen anders, als wir Erwachsene das Märchen erleben. Es sind wirklich alle diese Gestalten in ihm. Wir müssen sie gar nicht da hineinbringen. — Allerdings, eines fällt mir zu Ihrer Frage doch noch ein: Als Kind konnte ich meine Lieblingsmärchen nicht oft genug hören. Und die Wiederholung befestigte natürlich alles, was ich in meiner Phantasie erlebte.

Aber es wäre furchtbar, wenn ich dem Kinde so etwas erklären würde, wie wir es heute abend miteinander besprochen haben. Das Kind lebt unmittelbar in jedem Bild darinnen. Es stellt sich nicht dem Bild gegenüber, wie wir Erwachsene das in der Vorstellungsbildung tun.

Als Erwachsene müssen wir den Zugang zu dieser Bilderwelt — über das Bewusstsein — oft mühsam erst wieder suchen. Das Kind ist noch selbst ,Bild’, in der Bildung begriffen — im Wachstum.

In einem späteren Alter lässt diese ‚Bildefähigkeit’ nach; Inhalte anderer Art sind dann gefragt. Das Kind will dann nicht mehr nur Märchen hören. ‚Ist die Geschichte wahr?’ fragt es häufig, bevor wir zu erzählen beginnen.

Ja, wenn das Wachstum die Region des Hauptes verlässt, wo es jetzt im Zahnwechsel tätig ist, und dann später die grossen Wachstumsprozesse in Lunge und Herz einsetzen, dann werden Sie sehen, dass das Kind nicht mehr in die Märchenbilder so hineinschlüpft wie jetzt. Wenn das Kind älter wird, sucht es nach einer anderen Art von Bildern.”

„Aber dann sind ja Ihre Bemühungen vergebens gewesen“, wendete der Vater ein.

„Das hoffe ich aber nicht. Wachsen und Welken bedingen einander. Wir sahen ja schon früher, dass die Mutter sieht, wie die Züge des Säuglings in dem Masse ,welken', wie das Kindergartenkind heranreift. Unsere Erstklässler werden ihre Gesichtszüge völlig verändert haben, wenn die Pubertät beginnt. Aber was nicht vergeht, das ist dasjenige, was mit dem innersten Wesen des Kindes mitwachsen kann.

Wenn eine Blume heranwächst und sich schliesslich die Blüte öffnet, so bildet sie bald danach die Samen. Diese Samen werden wieder wachsen, wieder dieselben Blumen bilden. So kann im Kinde dasjenige gedeihen, was Samencharakter hat. Es muss aber so beschaffen sein, dass es durch alle Bildungen und Umbildungen hindurchgehen und sich entfalten kann. Alle unsere fixierten Urteile, Richtlinien, Vorstellungen und dergleichen mehr können das nie und nimmer, weil sie zu sehr fertig sind.

Ein Schuh Grösse 32 kann nicht mit dem Fuss von Monika wachsen, weil er eine fertige Form hat und haben muss. Bilder aber, tief empfunden, wachsen auf dem Grunde der Seele.

Aus dem Märchen vom Meerhäschen können Seelenkräfte aufspriessen. Im späteren Leben kann uns plötzlich die Frage befallen: Gleiche ich der Prinzessin? Wir können darum ringen, diese Gestalt in uns zu erlösen, und: Wir werden uns auch vor ihr verstecken wollen. — Vielleicht werden wir im späteren Leben auf den Fuchs aufmerksam, dem wir zuerst einen Splitter aus der Pfote herausziehen müssen und der uns hernach zur Quelle im Walde führt. Und immer andere Schicksalszusammenhänge werden auf uns zu kommen und uns einengen, aber es können auch immer neue Bilder aus der Seele aufsteigen, die uns die Sicht öffnen.

Wenn das Kind ein Märchen hört, nimmt es etwas Zukünftiges auf. Oft hören wir sagen: Kinder sind die Zukunft. Leicht gesagt! Aber wie gehen wir methodisch so damit um, dass wir sie tatsächlich auch für die Zukunft unterrichten?

Wir erzählen ja das Märchen jetzt, in der Gegenwart. Nun kommt in Betracht, wie das Kind einem Märchen lauscht. Das Kind nimmt das Märchen ja nicht nur mit dem Verstande, sondern vor allem durch sein Miterleben auf: Es ist gespannt, es bangt und hofft, und es freut sich. Würde es das Märchen nur verstehen, wäre es mit der Gegenwart auch bald wieder vergangen.

Das Wunderbare, das in jedem echten Märchen vorkommt, dämpft das helle Tagesbewusstsein etwas ab und taucht das Kind dafür um so mehr in das Gefühl ein. Und in diesem Hineinträumen in die Bilder kann sich der Inhalt des Märchens wie ein Same in die Seele des Kindes versenken, um in der Zukunft wieder hervorzuspriessen, die Sicht für manches Schicksalsrätsel im Leben erhellend.

Sehen Sie jetzt, wie das Zukünftige im täglichen Unterricht veranlagt werden kann? — Alles Bildhafte wirkt in diesem Sinne in die Zukunft hinüber, weil es nicht im Augenblick des Hörens vom wachen Verstand erfasst und dadurch verzehrt wird, sondern weil es sehr langsam, manchmal erst nach vielen Jahren, erwachen wird.

Der tiefere Sinn der Märchen leuchtet uns erst so recht entgegen, wenn wir älter und älter werden. Da breiten gerade die Märchen das stärkste Licht über unser Leben aus. Wohl denen, die in ihrer Kindheit Märchen aufnehmen durften! Aus einem Märchen kann man ein ganzes Leben lang wie aus einer Quelle schöpfen.” Der Lehrer schwieg.

„Es kommt mir noch etwas in den Sinn: Ein Lehrer und ein Gärtner haben vieles gemeinsam: Wie der Gärtner aussät, pflegt und erntet, so wird auch der Lehrer aussäen, pflegen und ernten. Sonst würden wir uns entweder die Zukunft, die Gegenwart oder die Vergangenheit verdunkeln.“

Die Mutter, die dem Lehrer sehr aufmerksam zugehört hatte, richtete plötzlich ihren Blick nachdenklich auf ihn: „Das alles, was Sie eben gesagt haben, legt uns Eltern und Ihnen als Lehrer eine gewaltige Verantwortung auf. Ich will nur eines herausnehmen: Wie, wenn das Kind jetzt nicht echte Bilder aufnimmt, die es in gesunder Weise bilden, sondern solche Bilder, die es verbilden? Wir sollten doch bedenken: Phantasie, wenn sie ins Krankhafte geht, wird zur Phantastik. Aber heute gibt es überall in der Welt eine scheussliche Bilderschwemme. Ich denke da zum Beispiel an die Comic-Heftchen. Man sieht doch sofort diesen Bildern an, wie sie die Seelenwelt eines Kindes verzerren können. “ 

„Darf ich zum Schluss noch einen konkreten Vorschlag zu dem machen, was Sie eben angesprochen haben?" bat der Lehrer. 

„Bitte, ich bin neugierig darauf!“ 

„Glauben Sie nicht auch: Wenn Eltern statt fernzusehen Märchen erzählen würden, was würde dann entstehen? Es könnte ein Fest sein! Gäbe es etwas Besseres?“ Das zustimmende Lächeln gab dem Lehrer Mut, die zu Beginn des Abends gestellte Frage nach einem generellen Fernsehverbot doch noch aufzugreifen. Aber dazu sollte es nicht kommen. Die Frau des Hauses kam ihm zuvor: „Und ach, wissen Sie, die von meinem Mann heute abend vorgebrachte Kritik wegen der fehlenden Aussprache über ein allgemeines Fernsehverbot, das sehe ich nach unserem heutigen Abend noch einmal ganz anders. Ich glaube, man muss davon überzeugt sein, was das Märchenleben für ein Kind bedeutet. Und dann kann man selber auch auf manches verzichten. Mehr Eltern sollten etwas von dem erfahren, was wir heute abend besprochen haben. Es gehört doch in die Problematik, mit der wir bei Kindern in dieser Klassenstufe zu tun haben. Verbote allein genügen nicht.”

Die Gesprächsrunde neigte sich dem Ende zu. Man plauderte noch über dies und jenes.

„Darf ich noch eine neugierige Frage stellen?” bat die Mutter. „Ich würde nämlich gerne wissen, ob Sie alle Märchen, die Sie unseren Kindern erzählen, zuvor so genau durchforschen, wie Sie es heute abend mit dem Märchen vom Meerhäschen gemacht haben, und ob dieses bewusste Durchdringen der Märchengestalten für Sie die Voraussetzung für das Erzählen ist. ”

„Ich bin immer furchtbar neugierig darauf, ob mir ein Licht beim Erzählen aufgeht. Gerade wenn Kinder zuhören oder fragen, können mir die unglaublichsten Zusammenhänge klarwerden, die in einem Märchen enthalten sind.

Sie sprachen es ja heute abend selber einmal an: Ihre Tochter sagte: ‚Das ist gut, dass es den schlauen Fuchs gibt.’ — ‚Ja, der weiss die richtigen Pfiffe’, sagten Sie. — Dann fragt Sie das Kind vielleicht weiter: ‚Warum ist denn die Quelle im Wald?’ — Wir könnten antworten: ‚Es ist ja doch ein besonderer Quell. Die, die darin eintauchen, verwandelt er. So eine Quelle liegt nicht im hellen Sonnenlicht, wo sie jeder sieht und finden kann. Sie liegt im Waldschatten verborgen, und nur der Fuchs kennt die Schleichweglein zu so einem geheimen Ort.’ — So sprechen wir mit dem Kind in einer gemeinsamen Sprache, die in einem ganz anderen Land gesprochen wird.

Aber noch einmal zu Ihrer Frage: Natürlich ist es gut, wenn man sich vorher klarmacht: Was erzähle ich eigentlich den Kindern mit diesem oder jenem Märchen? Denn es gibt ja auch genug Märchen, die sich nicht für Kinder eignen.

Was wir heute abend besprochen haben, wusste ich übrigens auch nicht vorher. Es entstand unter uns, und ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr inspirierendes Mitwirken."

„Und wir danken Ihnen für den anregenden Abend "‚ erwiderte die Mutter. „Jetzt bekomme ich nämlich Lust, selber Märchen zu lesen, mich darüber mit meinem Mann zu unterhalten. Gell, das wird uns beiden guttun, zusammen darüber zu sinnen und zu rätseln. Und dann bin ich gespannt, wie Monika zuhört und was ich mit ihr alles zu besprechen habe, wenn ich ihr selber Märchen erzähle.

Ob das alles ohne Sie auch so gut geht, möchte ich bezweifeln. Aber vielleicht kommen Sie wieder zu uns, wenn wir das Hochzeitsfest feiern?“ „Soo... staunte der Lehrer. „Aber davon wusste ich ja gar nichts. Wann ist denn das?” 

Die Mutter lachte: „Immer, wenn der Jüngling die Prinzessin zur Frau kriegt.“

 

 

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