DAS UNWAHRE PRINZIP UNSERER ERZIEHUNG von Max Stirner

Max Stirner (Pseudonym für Johann Caspar Schmidt) wurde am 25. Oktober 1806 in Bayreuth geboren, studierte in Berlin bei Hegel und Schleiermacher u.a., war von 1839-44 als Lehrer tätig und starb verarmt am 25. Juni 1856 in Berlin. Stirner war ein vir unius libri : Er schrieb neben einigen Korrespondenzen, Aufsätzen und Übersetzungen nur ein Buch -- »Der Einzige und sein Eigentum«, das 1844 erschien und bis heute immer wieder aufgelegt wurde (ohne dass man es einen philosophischen Klassiker nennen dürfte).

 

Das unwahre Prinzip unserer Erziehung

Max Stirner, 1842

Kurzfassung

Bildet man unsere Anlage, Schöpfer zu werden, gewissenhaft aus, oder behandelt man uns nur als Geschöpfe, deren Natur bloß eine Dressur zulässt?

Was macht man aus uns in der Zeit unserer Bildsamkeit?

 Die Schulfrage ist eine Lebensfrage.

Stirner bespricht ein Büchlein „Konkordat“ des Professors Heinsius, indem er dessen kurze Skizze des historischen Verlaufs von der Reformation an aufnimmt, nämlich das Verhältnis zwischen Mündigen und Unmündigen, zwischen Herrschenden und Dienenden, Gewaltigen und Machtlosen und nennt sie kurz die Untertänigenperiode.

Dabei hat die Bildung einen besonderen Wert, weil, wer sie hatte, Macht über den Ohnmächtigen besaß. Bildung verschafft Überlegenheit.

Die Revolution durchbrach die Herren- und Diener-Wirtschaft und ein anderer Grundsatz trat ins Leben: jeder sei sein eigener Herr!

Fortan musste die Bildung eine universelle werden.

Der Drang nach universeller, allen zugänglicher Bildung wurde allgemein.

Der Kampf entbrannte zwischen allgemeiner und ausschließlicher Bildung und Heinsius wählt dafür die beiden Begriffe

Humanismus und Realismus. Bis ins 18.Jahrhundert lag die höhere Bildung in den Händen der Humanisten und beruhte auf dem Verständnis der alten Klassiker. Daneben ging eine andere Bildung einher, welche ihr Muster gleichsam im  Altertum suchte und in der Hauptsache auf die Kenntnis der Bibel hinauslief.

In beiden Fällen sah man die beste Bildung in der antiken Welt zu seinem einzigen Stoff. Die sogenannte höhere Bildung war daher eine elegante Bildung, eine Bildung des Geschmacks und des Formensinns.

Den Priesterstand der Gelehrten und den Laienstand des Volkes aufzuheben, ist das Streben des Realismus. In der Aufklärung regte sich ein Geist des Widerstandes gegen den Formalismus und neben der Anerkennung unverlierbarer und allgemeiner Menschenrechte gesellte sich die Forderung einer alle umfassenden, einer menschlichen Bildung.

Der Mangel einer reellen und in das Leben eingreifenden Belehrung war an der bisherigen Verfahrensweise der Humanisten einleuchtend und erzeugte die Forderung einer praktischen Ausbildung.

Fortan sollte alles Wissen leben, das Wissen gelebt werden; denn erst die Realität des Wissens ist seine Vollendung. Gelang es, den Stoff des Lebens in die Schule einzuführen, durch ihn etwas allen Brauchbares zu bieten, und eben darum alle für diese Vorbereitung aufs Leben zu gewinnen und der Schule zuzuwenden, so beneidete man die gelehrten Herren nicht mehr um ihr absonderliches Wissen, und das Volk beendete seinen Laienstand.

 Die Grundsätze der Menschenrechte gewannen auf dem Gebiete der Pädagogik Leben und Realität: Die Gleichheit, (weil jene Bildung alle umfasste)

Die Freiheit (da man in dem, was man brauchte, bewandert und unabhängig und selbständig wurde)

Man sah die Schule hinter dem Leben zurückgeblieben, indem sie sich nicht nur dem Volke entzog, sondern auch bei ihren Zöglingen über der exklusiven die universelle versäumte. Hat ja doch die Schule, dachte man, die Grundlinien unserer Versöhnung mit allem, was das Leben darbietet, zu ziehen und dafür zu sorgen, dass keiner der Gegenstände, mit welchen wir uns dereinst befassen müssen, uns völlig fremd sei.

Daher wurde aufs eifrigste Vertrautheit mit den Dingen und Verhältnissen der Gegenwart gesucht und eine Pädagogik  in Aufnahme gebracht, um sich in der Welt und in der Zeit zu finden.

 Der im Sinne des Realismus Gebildete war auch nicht über den sog. „praktischen Menschen“ hinausgekommen. Das Vergangene zu fassen, wie der Humanismus lehrt, und das Gegenwärtige zu ergreifen, worauf es der Realismus absieht, führt beides nur zur Macht über das Zeitliche. Ewig ist nur der Geist, welcher sich erfasst. Deshalb empfingen Gleichheit und Freiheit auch nur ein untergeordnetes Dasein.

Man konnte wohl anderen gleich, und von ihrer Autorität emanzipiert werden; von der Gleichheit mit sich selbst, von der Ausgleichung und Versöhnung unseres zeitlichen und ewigen Menschen, von der Verklärung unserer Natürlichkeit zur Geistigkeit, kurz von der Einheit und der Allmacht unseres Ich’s, das sich selbst genügt, weil es außer ihm nichts Fremdes stehen lässt, davon ließ sich in jenem Prinzip kaum eine Ahnung erkennen. Und die Freiheit erschien wohl als Unabhängigkeit von Autoritäten, war aber noch leer an Selbstbestimmung und lieferte noch keine Taten eines in sich freien Menschen, Selbstoffenbarungen eines rücksichtslosen, d.h. eines aus den Fluktuieren der Reflexion erretteten Geistes.

Der formell Gebildete sollte freilich nicht mehr über den Meeresspiegel der allgemeinen Bildung hervorragen und verwandelte sich aus einem „höher Gebildeten“ in einen „einseitig Gebildeten“; der im Sinne des Realismus Gebildete war auch nicht über die Gleichheit mit andern und die Freiheit von andern, nicht über den sogenannten „praktischen Menschen“ hinausgekommen.

Die leere Eleganz des Humanisten, der Dandy,  konnte der Niederlage nicht entgegengehen, allein der Sieger gleiste vom Grünspan der Materialität und war nichts Höheres, als ein geschmackloser Industrieller.

Warum muss inzwischen auch der Realismus, auch wenn er das Gute des Humanismus in sich aufnimmt, zugrunde gehen? Da der Realismus so gut als der Humanismus davon ausgeht, dass es die Bestimmung aller Erziehung ist, dem Menschen Gewandtheit zu verschaffen, dass man auf Meisterschaft in der Handhabung des Stoffes, auf Bemeisterung derselben hinzuarbeiten habe: so wird es gewiss nicht ausbleiben, dass auch der Realismus endlich als letztes Ziel die Geschmacksbildung anerkenne und die formierende Tätigkeit obenan stelle.

Denn in der Erziehung hat ja doch aller gegebene Stoff nur darin seinen Wert, dass die Kinder lernen, etwas damit anzufangen, ihn zu gebrauchen.

Wohl darf nur Nützliches und Brauchbares, wie die Realisten wollen, eingeprägt werden; allein der Nutzen wird doch einzig im Formieren zu suchen sein, im Verallgemeinern, im Darstellen, und man wird diese humanistische Forderung nicht abweisen können.

Die Humanisten haben darin recht, dass es vornehmlich auf die formelle Bildung ankommt – darin unrecht, dass sie diese nicht in der Bewältigung jedes Stoffes finden;

Die Realisten verlangen das Richtige darin, dass jeder Stoff auf der Schule angefangen werden müsse, das Unrichtige dann, wenn sie nicht formelle Bildung als hauptsächlichen Zweck ansehen wollen.

Der Realismus kann, wenn er die rechte Selbstverleugnung übt und sich nicht den materialistischen Verführungen hingibt, zu dieser Überwindung seines Widersachers und zugleich zur Versöhnung mit ihm kommen.

Warum feinden wir ihn nun dennoch an? Das Denken und Wissen ist freilich durch die bisherige Entwicklung in seinem Umfang erweitert, ist aber jenes auch deutlicher und dieses sicherer geworden?

Weshalb zeigen sich denn die Realisten der Philosophie so abhold?

Weil sie ihren eigenen Beruf verkennen und mit aller Gewalt beschränkt bleiben wollen.

Wir wollen die Pädagogik nicht in die Hände der Philosophen spielen Denen allein werde sie anvertraut, die mehr sind als Philosophen, darum aber auch unendlich mehr, als Humanisten und Realisten. Die letzteren haben den richtigen Geruch, dass auch die Philosophen untergehen müssen, aber keine Ahnung davon, dass ihrem Untergange eine Auferstehung folgt: sie abstrahieren von der Philosophie, um ohne sie in den Himmel ihrer Zwecke zu gelangen, sie überspringen sie und fallen in den Abgrund eigener Leerheit, sie sind unsterblich, nicht ewig.

Nur die Philosophen können sterben und finden im Tode ihr eigentliches Selbst; mit ihnen stirbt die Reformations-Periode, das Zeitalter des Wissens.

Das Wissen muss sterben, um im Tode aufzublühen als Wille Die Denk-, Glaubens- und Gewissensfreiheit werden in den Mutterschoß der Erde zurücksinken, damit eine neue Freiheit, die des Willens, von ihren edelsten Säften sich nähre. Das Wissen und seine Freiheit war das Ideal jener Zeit, das auf der Höhe der Philosophie endlich erreicht worden ist. Mit der Philosophie schließt unsere Vergangenheit ab.

Wer hinfort das Wissen bewahren will, der wird es verlieren; wer es aber aufgibt, der wird es gewinnen. Das rechte Wissen vollendet sich, indem es aufhört, Wissen zu sein, und wieder einfacher menschlicher Trieb wird, - der Wille. Der „Beruf des Menschen“ schlägt sobald er erkannt worden, in die Flamme des sittlichen Willens aus und durchglüht die Brust des nicht mehr im Suchen zerstreuten, sondern wieder frisch und naiv gewordenen Menschen: Auf, bade, Schüler, unverdrossen, Die ird’sche Brust im Morgenrot!

Das Ende des Wissens Es ist das Ende und zugleich die Unvergänglichkeit, die Ewigkeit des Wissens:

das Wissen, das wieder einfach und unmittelbar geworden, als Wille sich (das Wissen) in jeder Handlung von neuem und in neuer Gestalt setzt und offenbart.

Nicht der Wille ist von Haus aus das Rechte, nicht überspringen darf man das Wissenwollen, um gleich im Willen zu stehen, sondern das Wissen vollendet  sich selbst zum Willen, wenn es sich entsinnlicht und als Geist, „der sich den Körper baut“, sich selbst erschafft.

Es haften an jeder Erziehung die Gebrechen der Zeitlichkeit Jede Erziehung, die nicht auf diesen Tod und diese Himmelfahrt ausgeht haften außerdem die Formalität und Materialität, der Dandismus und Industrialismus an.

Ein Wissen, welches sich nicht so erläutert und konzentriert, dass es zum Wollen fortreißt, welches mich nur als ein Haben und Besitz beschwert, statt ganz und gar mit mir zusammengegangen zu sein, sodass das freibewegliche Ich frischen Sinnes die Welt durchzieht, das nicht persönlich geworden ist.

Man will es nicht zur Abstraktion kommen lassen, denn dadurch wird der Stoff wirklich getötet und in Geist verwandelt und dem Menschen die eigentliche und letzte Befreiung gegeben. Nur in der Abstraktion ist die Freiheit.

Der Freie Mensch ist nur der, welcher das Gegebene überwunden und selbst das aus ihm fragweise Herausgelockte wieder in die Einheit seines Ich’s zusammengenommen hat.

Der persönliche oder freie Mensch Wenn es der Drang unserer Zeit ist, nachdem die Denkfreiheit errungen wurde, diese bis zu jener Vollendung zu verfolgen, durch welche sie in die Willensfreiheit umschlägt, so kann auch das letzte Ziel der Erziehung nicht mehr das Wissen sein, sondern das aus dem Wissen geborene Wollen, der persönliche oder freie Mensch.

Die Wahrheit selbst besteht in nichts anderem, als in dem Offenbaren seiner selbst, und dazu gehört das Auffinden seiner selbst, die Befreiung von allem Fremden, die äußerste Abstraktion oder Entledigung von aller Autorität, die wiedergewonnene Naivität.

Solche durchaus wahren Menschen liefert die Schule nicht, wenn sie dennoch da sind, so sind sie es trotz der Schule.

Diese macht uns wohl zu Herren über die Dinge, allenfalls auch zu Herren unserer Natur; zu freien Naturen macht sie uns nicht.

Kein noch so gründliches und ausgebreitetes Wissen, kein Witz und Scharfsinn, keine dialektische Feinheit bewahrt uns vor der Gemeinheit des Denkens und Wollens.

Der Schulstaub muss abgeschüttelt werden Es ist wahrlich nicht das Verdienst der Schule, wenn wir nicht die Selbstsucht aus ihr mitbringen.

Jede Art entsprechender Eitelkeit und jede Art der Gewinnsucht, Ämtergier, mechanischer und serviler Dienstbeflissenheit, Achselträgerei usw. verbindet sich sowohl mit dem ausgebreiteten Wissen, als mit der eleganten, klassischen Bildung, und da dieser ganze Unterricht keinerlei Einfluss auf unser sittliches Handeln ausübt, so verfällt er häufig dem Lose, so weit vergessen zu werden, als er nicht gebraucht wird: man schüttelt den Schulstaub ab.

Dies alles darum, weil die Bildung nur im Formellen oder im Materiellen, höchstens in beiden gesucht wird, nicht in der Wahrheit, in der Erziehung des wahren Menschen.

Das Resultat des Schullebens ist das Philistertum Nur Gelehrte gehen aus den Menagerien der Humanisten, nur „brauchbare Bürger“ aus denen der Realisten hervor, die doch beide nichts als unterwürfige Menschen sind.

Wie wir uns in der Kindheit in alles zu finden gewöhnten, was uns aufgegeben wurde, so finden und schicken wir uns später ins positive Leben, schicken uns in die Zeit, werden ihre Knechte und sogenannten guten Bürger.

Wo wird denn an Stelle der bisher genährten Unterwürfigkeit ein Oppositionsgeist gestärkt, wo wird statt des lernenden Menschen ein schaffender erzogen, wo verwandelt sich der Lehrer in den Mitarbeiter, wo erkennt er das Wissen als umschlagend in das Wollen, wo gilt der freie Mensch als Ziel, und nicht bloß der gebildete?

Nicht die Bildung, sondern die Selbstbestätigung ist das höchste Ziel der Erziehung Wird darum die Bildung vernachlässigt werden?

Gerade so wenig, als wir die Denkfreiheit einzubüßen gesonnen sind, indem wir sie in die Willensfreiheit eingehen und sich verklären lassen. Wenn der Mensch erst seine Ehre darein setzt, sich selbst zu fühlen, zu kennen und zu betätigen, also in Selbstgefühl, Selbstbewußtsein, und Freiheit, so strebt er von selbst, die Unwissenheit, die ihm ja den fremden, undurchdrungenen Gegenstand zu einer Schranke und Hemmung seiner Selbsterkenntnis macht, zu verbannen.

Erziehung zur Persönlichkeit So laufen denn die Radien aller Erziehungen in dem einen Mittelpunkte zusammen, welcher Persönlichkeit heißt.

Das Wissen bleibt solange doch nur ein Besitz und Eigentum, als es nicht in dem unsichtbaren Punkt des Ich’s zusammengeschwunden ist, um von da als Wille, als übersinnlicher und unfasslicher Geist allgewaltig hervorbricht.

Das Wissen erfährt diese Umwandlung dann, wenn es aufhört, nur an Objekten zu haften, wenn es ein Wissen von sich selbst, oder, falls dies deutlicher scheint, ein Wissen der Idee, ein Selbstbewußtsein des Geistes geworden ist.. Dann verkehrt es sich in den Trieb, den Instinkt des Geistes sozusagen, in ein bewußtloses Wissen, von dem sich jeder wenigstens eine Vorstellung zu machen vermag, wenn er es damit vergleicht, wie so viele und umfassende Erfahrungen bei ihm selbst in das einfache Gefühl sublimiert wurden, das man Takt nennt: alles aus jenen Erfahrungen gezogene weitläufige Wissen ist in ein augenblickliches Wissen konzentriert, wodurch es im Nu sein Handeln bestimmt.

Dahin aber, zu dieser Immaterialität, muss das Wissen durchdringen, indem es seine sterblichen Teile opfert und als Unsterbliches – Wille wird.

Von der Ausbildung freier Personen hat die Erziehung auszugehen Die meisten Seminaristen sind aufs Trefflichste zugestutzt dressiert und dressieren nun wieder.

Persönlich muss jede Erziehung werden, und vom Wissen ausgehend doch stets das Wesen desselben im Auge behalten, damit es nie Besitz, sondern das Ich selbst sein soll.

Nicht das Wissen soll angebildet werden, sondern die Person soll zur Entfaltung ihrer selbst kommen; nicht vom Zivilisieren darf die Pädagogik ferner ausgehen, sondern von der Ausbildung freier Personen, souveräner Charaktere, und darum darf der Wille nicht länger geschwächt werden.

Die kindliche Eigenwilligkeit und Ungezogenheit hat so gut ihr Recht, als die kindliche Wissbegierde. Wenn das Kind sich nicht fühlen lernt, so lernt es gerade die Hauptsache nicht. Man unterdrücke seinen Stolz nicht, seinen Freimut. Gegen seinen Übermut bleibt meine eigene Freiheit immer gesichert.

Die Schule sei Leben.

Das Wissen muss sterben, um als Wille wieder aufzuerstehen, und als freie Person sich täglich neu zu schaffen.

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