Helmut Hauck: SPÄTE BEGEGNUNG

Für Freunde der russischen Literatur hat Rosa Luxemburg eine detaillierte Einführung in die russische Literatur des 19.Jahrhunderts geschrieben, die hier in der "Späte Begegnung" abgedruckt wurde. Als Nachtrag werden die sechs Briefe aus dem Jahre 1920 abgedruckt, in denen Korolenko begründet, warum er die Politik der Bolschewiki ablehnt und die Gefahr des Scheiterns der Revolution sieht.

Der Autor spricht von seiner Begegnung mit der Russischen Literatur insbesondere mit dem zu Unrecht unbekannten Russischen Dichter, Literaten und Menschenrechtler

Wladimir Galaktionowitsch Korolenko, 1853-1921

mit seinen Werken und  Taten im Zarenreich und während der Russischen Revolution. Daneben begegnet er auch Rosa Luxemburg, der Übersetzerin der Werke ins Deutsche, besonders die Einleitung ihrer Übersetzung der Autobiografie „Die Geschichte meines Zeitgenossen“.

Auf diesem Wege lernt der Leser auch den Sekretär Anatoli Lunatscharski kennen, der die Sechs Briefe Korolenkos 1917 erhält und der im Vorgespräch seine Antworten und die Veröffentlichung in Aussicht gestellt hatte. Leider ist das nicht erfolgt.

 

Helmut Hauck: SPÄTE BEGEGNUNG  

ISBN 9783000385209

Briefe von Wladimir Korolenko an den Volkskommissar für Unterrichtswesen und Volksaufklärung Anatoli Lunatscharski.

Wladimir Korolenko: Briefe an Lunatscharski von Sergej Salygin

Mit der Veröffentlichung dieser Briefe möchten wir an den hervorragenden russischen Schriftsteller und Staatsbürger Wladimir Korolenko (1853-1921) erinnern. Es erscheint merkwürdig, doch ist es Tatsache, daß wir in der Geschichte unserer Literatur vom Ende des 19. Anfang des 20.Jahrhunderts, ebenso wie in der Geschichte des gesellschaftlichen Denkens und Handelns jener Periode diesen Namen unbeachtet lassen. Wir schreiben viel über Lew Tolstoi, aber nichts über Wladimir Korolenko. Das ist ein großes, unverzeihliches Versäumnis.

Mit der nachstehenden Veröffentlichung decken wir ein übriges Mal ein Drama auf, das eigentlich ausnahmslos allen Revolutionen und noch mehr den Bürgerkriegen innewohnt.

W. I. Lenin wies darauf hin, daß die Oktoberrevolution in ihrer ersten Etappe die friedlichste und unblutigste gewesen war. Es stimmt ja auch. Fast ohne Blutvergießen hatte die Provisorische Regierung dem in dreihundert Jahren morsch gewordenen Zarenhof die Macht entrissen, und für die Sowjetmacht stellte diese Marionettenregierung auch kein ernst zu nehmendes Hindernis dar.

Und dabei hätte es bleiben können - fast ohne Blutvergießen -, wäre nicht sodann der Bürgerkrieg ausgebrochen, der maßgeblich von den Interventen im Norden, im Westen, im Süden und im Osten Rußlands provoziert worden war und einen gegenseitigen Terror ausgelöst hat, gegen den ein Geist wie der des Staatsbürgers Wladimir Korolenko unweigerlich protestieren mußte.

Uns Heutigen erscheint jener Terror um so tragischer, als er sich nicht als der letzte erwies. Unsere Väter und Großväter glaubten: Nachdem sie die Sowjetmacht mit allen nur erdenklichen Mitteln verteidigt und für immer behauptet haben, würden sie für immer auf ein Mittel wie den Terror verzichten.

Es kam aber anders: In den Jahren1929-1931 und 1937/38, aber auch in den Nachkriegsjahren 1948/49 war es das Schicksal vieler von ihnen, als erste einem „neuen“ Terrorismus zum Opfer zu fallen.

Damit es aber heute und in Zukunft in unserer sozialistischen und immer noch revolutionären 

Gesellschaft nie mehr zu dieser grauenhaften Erscheinung komme, müssen wir ihre Geschichte kennen. Die ganze Geschichte, nicht nur Bruchstücke.

Und auch jene Ritter der Moral und Gerechtigkeit müssen wir der Vergessenheit entreißen, die es immer und überall gegeben hat und die in den tragischsten Momenten so handelten, wie es ihnen ihr Gewissen vorschrieb. Denn selbst auf dem Höhepunkt eines Unheils, wie es der Terrorismus ist, gab es Menschen, die nach Kräften (und sogar über ihre Kräfte hinaus) diesem Unheil Widerstand geleistet haben.

Historisch gesehen mögen sie nicht in allem recht haben, aber sei es auch so, ihr Rittertum ist ihnen nicht abzusprechen, und sie müssen für immer im Gedächtnis des Volkes weiterleben.

 

Erster Brief 19.Juni 1920

Anatoli Wassiljewitsch, natürlich habe ich mein Versprechen, ausführlich an Sie zu schreiben, nicht vergessen, zumal es meinem aufrichtigen Wunsch entsprang. Meine Ansichten über die wichtigsten Faktoren des gesellschaftlichen Lebens offen auszusprechen ist mir wie andern aufrechten Schriftstellern schon lange ein zwingendes Bedürfnis. Die zur Zeit praktizierte „Freiheit des Wortes“ macht das unmöglich. Wir, die wir anders denken, sind gezwungen, statt der Aufsätze Memoranden zu schreiben. Doch ich hatte das Gefühl, mit Ihnen würde es mir leichter werden. Der Eindruck, den ich bei Ihrem Besuch gewann, bestärkte mich in meinem Vorhaben, und ich wartete nur auf die Minute, um mich hinzusetzen und mit einem Schriftstellerkollegen einen Gedankenaustausch über die schmerzlichsten Probleme der Gegenwart zu beginnen.

Doch der grauenhafte Vorfall, die Erschießungen während Ihres Hierseins (Der Sekretär kam am 7.Juni nach Poltawa, um Wladimir Korolenko zu sehen. Auf einer Kundgebung im Stadttheater bat Korolenko, ihm fünf Einheimische retten zu helfen, die zum Tode durch Erschießung verurteilt worden waren. Am nächsten Morgen bekam Korolenko einen Zettel von Lunatscharski, der Poltawa bereits verlassen hatte: „Lieber, unermeßlich verehrter Wladimir Galaktionowitsch! Es tut mir schrecklich leid, dass Sie mit Ihrer Erklärung an mich zu spät gekommen sind. Ich würde selbstverständlich alles tun, um schon Ihretwegen diese Menschen zu Rettern - aber ihnen ist nicht mehr zu helfen. Das Urteil war schon vor meiner Ankunft vollstreckt worden. Ihr Sie liebender Lunatscharski.“)‚ hat gewissermaßen eine Mauer zwischen uns aufgetürmt, so daß ich über nichts anderes sprechen kann, solange das nicht bereinigt ist. Deshalb muß ich, ob ich will oder nicht, mit diesem Vorfall beginnen.

Schon am Anfang unseres Gesprächs (genauer meiner Fürsprache), vor der Kundgebung, war ich voll Unruhe und von dem unklaren Gefühl beherrscht, alle meine Worte würden nur müßiges Reden über einem frischen Grab sein. Aber - ich klammerte mich an die Hoffnung, daß der Bescheid des Vorsitzenden der Außerordentlichen Kommission, der Tscheka, wohl doch nicht ganz unbegründet sein könne und daß die fünf Menschenleben noch zu retten wären. Allerdings spürte ich schon in Ihrem Tonfall, daß sogar Sie diese grauenvollen Dinge für irgendwie in der Ordnung halten, und dennoch... der Mensch gibt ja nie die Hoffnung auf...

Tags darauf, bevor ich noch Ihr Schreiben erhielt, erfuhr ich, daß mein vages Vorgefühl mich nicht getrogen hatte: fünf durch kein Gerichtsurteil verhängte Exekutionen, fünf Tote liegen zwischen meinen damaligen Eindrücken und dieser Minute, da ich beklommenen Herzens zur Feder greife.

Erst vor zwei, drei Tagen erfuhren wir aus unserer hiesigen „Iswestia“ die Namen der Opfer. Vor der Begegnung mit Ihnen hatte ich Angehörige von Aronow und Mirkin gesehen, und das wirft einen Widerschein von persönlicher Dramatik auf diese mir sonst unbekannten Schatten. Zu dem Treffen damals brachte ich erstens eine Kopie des offiziellen Untersuchungsergebnisses der für das Versorgungswesen zuständigen Person mit. Dort hieß es, dass die Versorgungsbehörde im Verhalten Aronows keine Verletzung der Dekrete habe Gestellen können. Zweitens brachte ich ein Ersuchen der in der Mühle beschäftigten Arbeiter mit, welches beweist, daß die Arbeiter in ihm keinen rücksichtslosen Ausbeuter und Spekulanten gesehen haben. Folglich lagen, was das Leben dieser beiden anbetrifft, verschiedene Meinungen vor, sogar offiziell, was auf jeden Fall Behutsamkeit und Nachprüfung erheischen sollte. Und tatsächlich war vom Gouvernements-Exekutivkomitee anderthalb Wochen zuvor der Außerordentlichen Kommission der Vorschlag zugegangen, Aronow aufgrund des Gutachtens des Rechtsberaters freizulassen oder aber den Fall dem Revolutionstribunal zu übergeben.

Statt dessen ist er auf dem Verordnungsweg erschossen worden.

Sie wissen, daß ich währ.                                                                                                                                                                                               end meiner literarischen Laufbahn nicht „nur Rosen gesät“ habe*. Unter der zaristischen Herrschaft habe ich immer wieder über die Todesstrafe geschrieben und mir sogar das

* Metapher aus einem Ihrer Artikel über mich.

Recht errungen, weit mehr darüber in der Presse verlauten zu lassen, als sonst von der Zensur geduldet wurde. Hin und wieder gelang es mir sogar, ein schon kriegsgerichtlich zum Tode verurteiltes Opfer zu retten und es gab Fälle, wo nach der aufgeschobenen Exekution Beweise für die Unschuld der Opfer erbracht und diese freigelassen wurden (beispielsweise im Fall Jussupow. 1899 rettete Korolenko den unschuldig verurteilten Tschetschenen vor der Todesstrafe). Doch gab es auch andere Fälle, wo diese Beweise zu spät kamen (Glusker u.a.)

Aber eine Hinrichtung ohne jedes Gericht, eine Hinrichtung im Verwaltungsverfahren - das war selbst in damaligen Zeiten äußerst selten. lch erinnere mich eines einzigen Falles, als der brutale Skalon (der Generalgouverneur von Warschau) ohne Gerichtsurteil zwei Jünglinge erschießen ließ.

Doch das rief selbst in militärjuristischen Kreisen eine solche Entrüstung hervor, daß nur die posthum erfolgte „Billigung“ des nicht sehr klugen Zaren diesen Skalon davor bewahrte, vor Gericht gestellt zu werden. Sogar Mitglieder des Obersten Kriegsgerichts versicherten mir, dass etwas Derartiges in Zukunft nie wieder vorkommen würde.

Viel Unglaubliches, Abscheuliches geschah zu jener Zeit und auch später, doch ein direktes Eingeständnis, daß die Untersuchungsbefugnis und die Befugnis, Todesurteile zu verhängen, in einer Hand vereinigt werden dürfen, das gab es selbst damals nicht. Die Tätigkeit der bolschewistischen Außerordentlichen Untersuchungskommissionen stellt in der Geschichte der Kulturvölker ein wohl einzigartiges Beispiel dar. In der Tscheka von Poltawa, die ich häufig mit verschiedenen Fürsprachen aufsuchte, fragte mich einmal ein angesehenes Mitglied der ukrainischen Tscheka nach meinen Eindrücken. Ich antwortete ihm: Hätten unterm Zaren die Kreisgendarmeriestellen das Recht besessen, nicht nur nach Sibirien zu verbannen, sondern auch Todesstrafen zu verhängen und zu vollstrecken, so wäre es das gleiche gewesen, wie das, was wir jetzt erleben.

Worauf mein Gesprächspartner erwiderte: „Aber das geschieht doch zum Wohle des Volkes“.

Ich bin derAnsicht, daß nicht alle Mittel dem Wohl des Volkes dienen, und für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß Erschießungen auf dem Verordnungsweg, zum System erhoben und nun schon seit über einem Jahr praktiziert, nicht zu diesen Mitteln gehören. Voriges Jahr mußte ich in einem Brief an Christ.Georg.Rakowski (Christian Rakowski war damals Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der Ukraine, später Botschafter der UdSSR in England und Frankreich. Im März 1938 wurde er vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR verurteilt und am 11.September 1941 im Gefängnis von Orjol erschossen. 1988 wurde er rehabilitiert. Korolenko hatte Rakowski noch vor der Revolution bei einer seiner Rumänien-Reisen kennengelernt) eine solche Episode beschreiben, als mehrere sogenannte Konterrevolutionäre von Tschekisten auf offener Straße erschossen wurden. Man führte sie in tiefer Nacht zum Friedho, um sie dort vor dem offnen Grab ohne alle Formalitäten durch Nackenschuß zu töten. Möglicherweise lag wirklich ein Fluchtversuch vor (es wäre verzeihlich), jedenfalls mähte man sie auf offner Straße mit leichten Maschinengewehren nieder. Wie dem auch sei, als die Leute morgens zum Markt kamen, sahen sie, wie die Hunde an den Blutlachen leckten, und hörten, was die Anwohner von dem nächtlichen Gemetzel erzählten. Ich fragte damals Chr.G.Rakowski, ob er glaube, dass diese paar Männer, seien sie selbst höchst beredte Agitatorn gewesen, den Leuten dort etwas Eindrucksvolleres und Aufrüttelnderes hätten sagen können als dies Bild. Ich muß vermerken, daß solche Versuche kollektiver Erschießungen vom lokalen Exekutivkomitee wie auch von den zentralen Behörden in Kiew (in zwei Fällen) sofort unterbunden wurden, mit der Forderung, daß diese Fälle vor das Revolutionstribunal kommen. Einen der schon zum Tode Verurteilten sprach das Gericht frei, und dieser Entscheid wurde vom Publikum mit lautem Beifall aufgenommen. Sogar die Rotarmisten von der Wache klatschten Beifall, das Gewehr stellten sie beiseite. Als dann später Denikin-Truppen die Stadt einnahmen, zerrten sie sechzehn halbverweste Leichen aus einem Massengrab und stellten sie zur Schau. Ein grausiger Anblick, Doch zu dieser Zeit hatten auch sie schon mehrere Menschen ohne Gericht erschossen, und ich fragte Demikin-Anhänger‚ ob sie meinen, daß die exhumierten Leichen der von ihnen Erschossenen schöner aussehen. Ja, die Entmenschlichung ist auf beiden Seiten schon bis zum Extrem gesteigert, und für mich ist es ein bitterer Gedanke, daß ein Historiker diese Seite der „Verordnungs-Aktivitäten“ der Tscheka in der Geschichte der ersten Russischen Republik nicht wird umgehen können. Und so geschehen keineswegs im 18., sondern im 20.Jahrhundert.

Entgegnen Sie mir nicht, daß sich die Revolution nach ihren eignen Gesetzen vollzieht. Natürlich gab es Ausbrüche von Massenaffekten, bei denen Blut floß, auch im 19.Jahrhundert. Aber das war spontaner Zorn und nicht System. Und es bildete für lange Zeit (wie etwa die Geiselerschießungen durch die Kommunarden) ein Blutmal, das nicht bloß die heuchlerische Entrüstung der Versailler hervorrief, die an Brutalität die Kommunarden noch weit übertrafen, sondern es wurde auch von den Arbeitern und ihren Freunden mit entschiedener Ablehnung aufgenommen... Diese Ereignisse warfen für lange einen düsteren und dämpfendn Schatten auf die gesamte sozialistische Bewegung.

In der Mitteilung über die Erschießung von Aronow und Mirkin, die endlich am 11.und 12. Juni in der „Iswestia“ erschien, heißt es, man habe sie wegen Getreideschiebung hingerichtet. Angenommen, dem sei so, obschon man sich erinnert, daß die Versorgungsstelle keine Verletzung der Dekrete hat feststellen können und ein solcher Widerspruch wohl zumindest eine nochmalige Nachprüfung erfordert hätte. Die ganze traurige Geschichte erinnert mich an eine Episode aus der Französischen Revolution. Auch damals herrschte Teuerung, und auch damals wurden die Aristokraten und Spekulanten dafür verantwortlich gemacht, eine kurzsichtige Erklärung, die den blinden Haß der Masse nur anschürte. Der Konvent, „den Gefühlen des Volkes entgegenkommend, ließ die Köpfe der damaligen Aronows und Mirkins zu Dutzenden unterm Fallbeil rollen. Allein - das half nichts, die Preise stiegen weiter. Die Arbeiter von Paris erwachten schließlich als erste aus dem Blutrausch. Sie wandten sich mit einer Bittschrift an den Konvent, in ihr heißt es: „Wir bitten um Brot, ihr aber glaubt, uns mit Hinrichtungen abfüttern zu können.“ Μichelet, der sozialistische Historiker, sieht in diesem Überdruss an den Hinrichtungen im Stadtteil St.Antoine das erste Aufflackern der Konterrevolution.

Glauben Sie wirklich, daß die gesetzlosen Erschießungen bei uns die Preise besser in Grenzen zu halten vermögen als die Guillotine? '

In der Presse werden nur vier Namen der am 30.Mai Erschossenen genannt, während mit aller Bestimmtheit von fünf Opfern gesprochen wurde. Die aufgeregte Bevölkerung schließt daraus, daß die Liste nicht vollständig ist. Es werden noch andere Namen genannt. Wenn beiläufig in irgendeiner Frage absolute Klarheit vonnöten ist, so in der Frage von Menschenleben. Da muß jeder Schritt voll beleuchtet werden. Jeder hat das Recht zu wissen, wer des Lebens beraubt wird, aus welchem Grund und von wem das Urteil ausgeht. Das ist das mindeste, was man von den Machthabenden verlangen kann. Jetzt lebt die Bevölkerung unter einem beständigen Alpdruck. Man spricht davon, daß die Liste nur einen Teil (der Hingerichteten) enthält. Das führt zu ungeheuerlichen Gerüchten: daß sogar die bisherige Prozedur weiter vereinfacht werden soll, bis zu einer schier unglaubhaften Abschaffung jeglicher Form — man halte nicht einmal die Vernehmung der Angeklagten mehr für nötig. Aber ich glaube, das sind Schreckensphantasien... Allein — wie treibt man den Gedanken aus den Köpfen, wenn doch die Wirklichkeit jetzt oft zur Fieberphantasie wird.

Bitter ist der Gedanke, dass selbst Sie, Anatoli Wassiljewitsch, statt dass Sie zur Besonnenheit aufrufen, zu Gerechtigkeit mahnen, zu achtsamem Umgehen mit Menschenleben, die ja jetzt so spottbillig geworden sind, in Ihrer Rede sich mit diesen Erschießungen „auf Verordnung“ quasi solidarisch erklären. Jedenfalls so klingt es in der Wiedergabe unserer Blätter. Ich wünsche von ganzem Herzen, daß in Ihrer Brust von neuem der Widerhall jener Stimmungen aufklingt, die Sie und mich in den entscheidenden Fragen einst nahe brachten, als wir noch beide die Ansicht teilten, die Entwicklung zum Sozialismus müsse sich auf die besten Seiten der menschlichen Natur stützen, was Mut im Kampf und Menschlichkeit auch gegenüber dem Gegner voraussetzt. Mögen Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit voll und ganz der überlebten Vergangenheit angehören und nicht in unsere Zukunft Eingang finden... 

So, nun habe ich mir vom Herzen geschrieben, was steinschwer auf mir lag. Ich hoffe, mein Denken hat sich von der finsteren Hülle befreit, die es mir unmöglich machte, meinen Wunsch zu erfüllen - mich mit Ihnen über die allgemeinen Fragen auszusprechen.

Bis zum nächsten Brief

 

Zum hundertsten Jahrestag seines Aufrufs für Recht und Freiheit in der Revolution vom Oktober 1917 in Russland. (Helmut Hauck, im Mai 2020)

„Kämpft mit Ideen, aber wagt nicht, den Menschen in eurem Feind zu vergessen…!“

Der russische Schriftsteller ist bei uns kein leeres Blatt mehr. Als der Volkskommissar für Unterrichtswesen und Volksaufklärung Anatoli Lunatscharski Korolenko einmal besuchte, schlug er ihm vor, seine Meinung brieflich mitzuteilen und versprach, sie mit Beantwortung zu veröffentlichen. Korolenko willigte ein, weil er unter der Diktatur des Proletariats keine andere Möglichkeit der Veröffentlichung sah. So kam es, dass er zwischen Juni und September 1920 sechs für die russische Öffentlichkeit formulierte Briefe an Lunatscharski sandte. Eine Veröffentlichung erfolgte nicht, weil angeblich nicht alle Briefe ankamen, hieß es später.

1922 wurden die Briefe in Paris vom Verlag „Sadruga“ herausgebracht.

Die Zeitung „Prawda“ veröffentlichte am 24.9.1922 die Frage: „Wofür interessiert sich Wladimir Iljitsch?“ Darauf antwortet Lew Kamenew, der Lenin auf seinem Krankenlager besuchte: „….für die Briefe von Korolenko an Lunatscharski, die eben erschienen sind.“ Ob oder wie Lenin darauf reagierte, ist noch unerforscht.

Der in den Briefen wiedergegebene bedeutungsvolle Abschnitt der russischen Geschichte kann hier leider nur sehr kurz sein:

Korolenko beginnt die Briefe mit seinem Protest gegen die wahllosen Erschießungen ohne Gerichtsurteil, diesen Rückfall in finstere Vergangenheit und unentschuldbaren Makel der neuen Gesellschaft. Er erklärt weiterhin, warum die Sozialisten der USA und Westeuropas nicht auf ihre erkämpften legalen Freiheiten und Rechte, die Russland noch nie hatte, verzichten und sich der sogenannten Diktatur des Proletariats und des voreiligen Kommunismus, ohne Beachtung objektiver und subjektiver Voraussetzungen, nicht anschließen werden. Die Bolschewiki benützten die Lüge, dass der Bourgeois nur Räuber und Halsabschneider sei, und dabei verschwiegen sie, dass der Kapitalismus auch eine Produktivkraft für die Umgestaltung der neuen Gesellschaft ist. Russland wird seinen Weg allein weitergehen müssen. Das bedeutete Verursachung von Hungersnot, Verarmung, Zwangswirtschaft, Terror und zunehmenden Hass besonders auf dem riesigen Land. Bürgerkrieg, ausländische Intervention, Emigration der Intelligenz und anderes waren weitere Folgen. Die Bolschewiki wollten Gerechtigkeit. Richtig, schrieb Korolenko, doch ohne Freiheit gibt es auch keine Gerechtigkeit. Ihr Maximalismus, alles auf einmal zu wollen, war alles andere, nur kein Marxismus. Korolenko rief die Bolschewiki auf, ihre Politik zu ändern, um den Erfolg der Revolution zu sichern. Er war überzeugt, die Veröffentlichung seiner Briefe werde das Volk bewegen, auf den Weg zur Wahrheit dankbar zurückzukehren.

Zu diesem Weg kam es nicht, da die Öffentlichkeit die Briefe nicht erhielt. Die Annäherung an die westlichen Sozialisten blieb aus. Möglicherweise wäre die Geschichte vollkommen anders und vor allem friedlicher verlaufen.

 In der Sowjetunion erschienen die Briefe erstmals 1988 im Heft 10 der Zeitschrift „Nowy Mir“. Die Zeitschrift „Sowjetliteratur 1/1990“ brachte uns die Übersetzung ins Deutsche, die im Nachdruck in „Späte Begegnung“ ISBN 978-3-00-028520-9 enthalten ist.

Als Korolenko 1921 starb, nahmen viele Menschen, darunter auch Funktionäre, schweigend von ihm Abschied.

Stalin, der schon die Knute in der Hand hatte, sorgte offensichtlich dafür, dass Korolenko und seine Überzeugung von der Notwendigkeit eines freiwilligen Sozialismus möglichst schnell in Vergessenheit geriet.

„Doch die Wirklichkeit bleibt Wirklichkeit“, schrieb Korolenko in seinen Briefen, die die hohe moralische Leistung der russischen Literatur rechtfertigen. Der Großteil des westlichen Antikommunismus ist damit entwertet, denn die Aussagen Korolenkos stehen seit 1920 aktuell im Raum!

Wer in der DDR die Sowjetunion kennenlernte, war von den großen Leistungen des Landes die bis zum Flug in den Kosmos reichten, beeindruckt. Doch zugleich blieb auch stets ein unerklärliches Unbehagen. Die alten Staatsmänner und die Stagnation waren nicht zu übersehen. Michail Gorbatschow wagte mit „Offenheit und Umgestaltung“ den mutigen Aufbruch und zugleich die Beendigung des „Kalten Krieges“, aber er scheiterte letztlich auch am Dogmatismus der Kommunistischen Partei und fiel in Ungnade.

 „Wirklichkeit bleibt Wirklichkeit“ mahnte Korolenko, auch noch nach 100 Jahren realistisch für eine neue soziale Ordnung.

 

 

 

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