MEINE VERSUCHE, UNTERRICHT UND ERZIEHUNG KÜNSTLERISCH-LEBENDIG ZU GESTALTEN
Magdalene Ithwari Kiefel
ÜBER MEINE VERSUCHE, UNTERRICHT UND ERZIEHUNG KÜNSTLERISCH UND LEBENDIG ZU GESTALTEN, IN ANLEHNUNG AN GOETHES GEDANKEN DARÜBER
Erschienen 1927 in Heft 1+2/3
„Zur Pädagogik Rudolf Steiners“, Zweimonatsschrift
Zur Person: Ich habe Frau Kiefel *11.9.1898 - †28.2.1988 im Jahre 1970 als Klassenlehrerin kennengelernt, sie war in ihrem 72.Jahr und veranstaltete mit ihrer Klasse eine Norwegenfahrt. Sie wurde mir als Schulgründerin der Freien Rudolf-Steiner-Schule Ottersberg vorgestellt. 1946 hat sie mit dem Bremer Kaufmann Hermann Hellmers die Schule in den Everinghauser Sanddünen mit einigen Kindern und deren Eltern gegründet. Im gleichen Jahr, im November, zog die kleine Schule in den freien Ottersberger Amtshof um und entwickelte sich langsam, aber stetig bis zur Währungsreform 1948. Da gab es große finanzielle Notpässe, die durch den Ottersberger Heinrich von Bargen gemildert werden konnten, indem er die Gemeinde und den Landkreis bewegen konnte, die Schule zu unterstützen. Der damalige Vorsitzende des Schulvereins Hermann Hellmers hat mehrfach betont, dass durch das Engagement v.Bargen die Schule gerettet wurde.
Die nachfolgende Diplomarbeit wurde in der ersten Nummer der neugegründeten Zeitschrift "Zur Pädagogik Rudolf Steiners", der heutigen "Erziehungskunst" abgedruckt. Frau Kiefel wurde nach der Veröffentlichung Klassenlehrerin der Berliner Waldorfschule bis zu deren Schließung. Nach dem Krieg lernte sie den Bremer Kaufmann kennen und wurde von diesem gebeten, seine kleine Tochter zu unterrichten. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelte sich die Ottersberger Waldorfschule.
"Nachdem ich während der Seminarzeit versucht hatte, gedächtnismäßig und in zunächst nur theoretischer Art möglichst viel von Erziehungskunde, von modernen Bestrebungen auf diesem Gebiete in mich aufzunehmen, sah ich mich vor die Aufgabe gestellt, mich nunmehr erfahrungsgemäß in mehrjähriger selbständiger Tätigkeit mit dem Gelernten auseinanderzusetzen, ehe ich in den öffentlichen Schuldienst kam.
Ich muß diese selbständige Arbeit - zuerst in einer Familienschule, dann als Hauslehrerin - als eine Gunst des Schicksals ansehen; denn es kristallisiert sich in solcher Arbeit besser und klarer heraus, was jede Individualität von dem Überkommenen sich aneignen kann, was je nach Charakter und Begabung verschieden sein wird. Das, was wirklich dem Betreffenden eigen ist, wird in ihm wachsen; was nur angenommen war, wird abfallen, schneller und gesunder, als es sonst oft der Fall sein kann, wenn man mitten im Wettstreit der Reformen und Ansichten steht.
Ich müßte nicht ein junger Mensch sein, wenn mich nicht vieles in pädagogischen Schriften - z. B. von Friedrich Paulsen, Kerschensteiner, Berthold Otto, Gaudig, Lietz usw. - oder mancher Vortrag auf Tagungen brennend interessiert, ja manchmal sogar begeistert hätte. Trotzdem ging es mir nach einiger Zeit, wenn ich mehr Abstand von den Dingen gewonnen hatte, immer so, daß ich von dem Gelesenen oder Vorgeführten im Innersten unbefriedigt war, ohne sagen, zu können, woran es lag. Ich mußte dankbar anerkennen - und tue es noch heute -, daß mein Wissen durch sie vermehrt, mein Blickfeld erweitert wurde; Hochachtung empfand und empfinde ich gegenüber dem Idealismus der genannten und vieler nicht genannten Persönlichkeiten auf dem Gebiete der Erziehungs- und Unterrichtstheorie und -praxis. Um so schwerer fiel es mir, nicht restlos bewundern und folgen, das Gesehene oder Gelesene nicht fruchtbar machen zu können.
Ganz allmählich ist es mir dann klar geworden am Positiven, wo das Negative war, das ich anfangs nur dunkel fühlte, aber nicht ergreifen und damit auch nicht begreifen konnte.
KEINE ERZIEHUNGSPROGRAMME
Zweierlei war es, das mir da besonders entgegentrat, mit dem ich nicht recht fertig werden konnte. Ich sah fast überall das Bestreben, Erziehungsprogramme aufzustellen, sie dem wirklich Vorhandenen als Ziel zu setzen und es nach ihnen bilden zu wollen. Ich zähle nur einige von diesen Zielen auf:
Standes-, Berufs-, staatsbürgerliche, ästhetische, soziale Erziehung, Bekenntnisschule und weltliche Schule, wobei ich alle diese Ziele je nach Weltanschauung, Partei und Konfession sehr verschieden interpretiert und dadurch geeignet fand, den Erzieher mehr zu verwirren als zu leiten.
Mir schien und scheint es unmöglich und unfruchtbar, die Pädagogik beeinflussen oder lenken zu lassen von Gebieten, die mit ihr nichts zu tun haben. Voller Hoffnung glaubte ich dagegen, den richtigen Weg dort zu finden, wo die Worte „kindgemäße, individuelle Erziehung“ ertönten, wo experimentelle Psychologie und Pädagogik getrieben wurde. Aber auch dort konnte ich im Einzelnen zwar vieles anerkennen, blieb im Grunde jedoch unbefriedigt. Ganz allmählich fand ich, daß hierbei ebenso wie bei den oben genannten Erziehungsprogrammen, das Streben nach Aufstellung eines Allgemeingültigen, das man dann auf den einzelnen Fall anwenden könne‚ waltet.
Man überträgt die Forschungsart, die man auf dem Gebiet der Naturerkenntnis anwendet, auf die Erforschung des Lebendigen, insbesondere des menschlichen Seelenlebens. Wie man bei der Betrachtung des Leblosen, des Anorganischen das Recht zur Analyse hat und damit dessen Eigenschaften feststellt, so glaubt man auf dieselbe Weise auch dem Lebendigen nahe zu kommen. Wie man dort auf dem Wege des Experimentes, dessen Ergebnis man in vielen einzelnen Fällen nachgeprüft hat, zum allgemeingültigen Gesetz kommt, das man nachher mehr oder weniger mechanisch wieder auf Einzelfälle anwenden kann, so versucht man, auf dem Wege der Experimentalpsychologie auch Gesetze der seelischen Erscheinungen zu gewinnen, die man dann in der Pädagogik bei einzelnen Individualitäten benutzen will.
GOETHE: WILHELM MEISTER
Demgegenüber fand ich völlig andere Anschauungen über die Erforschung und Behandlung des Lebendigen bei Goethe ausgedrückt. Und, wie gesagt, an diesen Anschauungen erst wurde in mir das Vorhingesagte ganz bewußt und zur Klarheit erhoben. In den Gesprächen mit Eckermann sagt er:
„Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze.“ (13.2.1829.)
Oder ähnlich in den „Maximen und Reflexionen“: „Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf das Gewordene angewiesen; jene bekümmert sich nicht: wozu? dieser fragt nicht: woher? - Sie erfreut sich am Entwickeln, er wünscht alles festzuhalten, damit er es nutzen könne.“ (Deutsche Klassiker-Bibliothek Hesse, Band l7, Seite 18.)
In dem oben erwähnten Gespräch steht kurz vor den angeführten Sätzen:
„Der Verstand reicht zu ihr (der Natur) nicht hinauf. (Aus dem Zusammenhang des Gesprächs geht hervor, daß damit hier das Lebendige, also auch der Mensch gemeint ist.)
Der Mensch muß fähig sein, sich zur höchsten Vernunft zu erheben...“
In den Prosasprüchen bezeichnet er das „gewöhnliche Anschauen“ als das „Erbteil des allgemeinen Menschenverstandes“ und stellt ihm „das reine Anschauen“ gegenüber und sagt, daß es „sehr selten“ sei. (A.a.O.S.12.)
An anderer Stelle nennt er dieses höhere Organ die „anschauende Urteilskraft“, und er äußert sich in Gesprächen und in späteren Gedichten darüber, daß der Träger dieser Vernunft ein „Zulänglicher, Wahrer, Reiner“ sein müsse, denn nur diesem offenbare sich das Höchste.
Zur Charakteristik seiner Ansicht über die Erforschungsweise des Lebendigen mag das Folgende dienen:
„Nach Analogien denken ist nicht zu schelten: die Analogie hat den Vorteil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induktion verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Wahres und Falsches mit sich fortreißt.“ (A.a.O.S.12.)
„Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben; dann hat er die Teile in der Hand, fehlt, leider! nur das geistige Band.“ (Faust v. 1582-1585.)
Nicht nur in diesen wenigen angeführten Worten, sondern wissenschaftlich angewandt in der „Metamorphose der Pflanzen“, in dem „Entwurf einer Farbenlehre“, in der „Italienischen Reise“ — mehr naturwissenschaftliche Werke darf ich hier nicht nennen, weil ich nur mit diesen mich bisher beschäftigt habe — fand ich die Anschauung der Notwendigkeit der Fruchtbarkeit von zweierlei Forschungsarten, ja zweierlei Werkzeugen — wenn ich mich so ausdrücken darf — für die beiden wesensverschiedenen Gebiete, das Tote und das Lebendige.
Das gewährte mir größte Befriedigung.
Der Verstand, das alltägliche Denken und die Sinnesbeobachtung, sie waren also gemäß dem „Gewordenen, Erstarrten“, dem Physischen, wie ich es hier nennen möchte; dem „reinen Anschauen“, der „Vernunft“ ergab sich das Lebendige, also auch das Seelische.
Daß dieses rein seelische Organ auch wirklich gemäß dem zu Erforschenden, dem Lebendigen sei, drückte sich in den schon angeführten Worten aus, daß der „Träger dieser Vernunft“ ein „Zulänglicher, Wahrer, Reiner“ sein müsse; also er muß selbst lebendig, wandlungsfähig‚ wandlungsbereit sein, weil nur andauernde moralische Schulung es erlangen und erhalten könne.
Dabei bleibt die Tätigkeit des Betreffenden nicht auf das Gebiet des Intellekts beschränkt, sondern ergreift den ganzen Menschen, zugleich mit dem Denken auch den Willen und das Gefühl.
In immer neuer freudiger Überraschung fand ich das harmonische Ineinanderwirken der beiden geistigen Funktionen, an den ihnen gemäßen Objekten entsprechend angewandt, überall auch in den künstlerischen Werken Goethes, mit denen ich mich in den letzten Jahren besonders beschäftigte, in „Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren“, im „Faust“, im „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“, in den „Urworten“ usw.
Besonders kam es mir dabei auf das Erfassen der Vernunfttätigkeit an.
Ich versuchte, mir ein immer lebendigeres Bild der Persönlichkeit Goethes aus seinen Werken, Briefen usw. vor die Seele zu stellen, um die lebendige Vielgestalt, die Wandlungen, die Weisheit dieses Großen erziehend auf mich wirken zu lassen.
GOETHEANISMUS UND DIE GEISTESWISSENSCHAFT RUDOLF STEINERS
Nun galt es aber, diese Forschungs-‚ diese Denkart nicht nur im allgemeinen zu erwerben, sondern vor allem zu lernen, damit der kindlichen Seele, ihren Bedingungen, ihren Entwickelungsstufen näher zu kommen. Da empfand ich das von Goethe Gesagte meistens nur wie großartige Andeutung, Forderung oder wie ein Zukunftsbild.
Ich allein hätte bestimmt nichts Rechtes daraus gemacht. Aber gleichzeitig fand ich den Weg zur Erfüllung der Forderungen, die Ausgestaltung einer Seelenlehre und einer Pädagogik auf dem von Goethe vorgezeichneten Wege in Rudolf Steiner, durch diesen rückwirkend auch ein viel tieferes Verständnis für jenen.
Goethe stellte in erster Linie doch künstlerisch dar — auch in der Farbenlehre oder in der Metamorphose der Pflanzen — während Rudolf Steiner nicht nur das tat, sondern auch zugleich die Wege wies, wie die Erkenntnis und vor allem die Fähigkeit dazu und zum rechten Bilden, Erziehen zu erlangen sei.
Unzählige Beispiele ließen sich dafür anführen, wie in Rudolf Steiners pädagogischen Schriften die gleiche Geistesart herrscht wie in den angeführten Goetheschen.
Zum Vergleich mit den oben zitierten Aussprüchen lasse ich einen Abschnitt aus einem Aufsatz Rudolf Steiners „Die pädagogische Zielsetzung der Waldorfschule in Stuttgart“ folgen:
„Will man das Wesen der Seele durchschauen, so muß man das Gesetzmäßige mit künstlerischer Gestaltungskraft in der Erkenntnis durchdringen. Der Erkennende muß zum künstlerisch Schauenden werden, wenn er das Seelische erfassen will. Man kann dozieren: ein solches Erkennen sei kein wahres Erkennen, denn es beteilige das persönliche Erlebnis an dem Erfassen der Dinge.
Solches Dozieren mag noch so viele logische Vorurteile für sich haben; es hat die Tatsache gegen sich, daß ohne die Beteiligung des inneren, persönlichen, des schaffenden Erfassens das Seelische nicht zu erkennen ist. Man schreckt vor dieser Beteiligung zurück, weil man glaubt, damit unbedingt in die persönliche Willkür des Beurteilens hineinzukommen. Gewiß, man kommt in diese Willkür hinein, wenn man sich nicht durch sorgfältige Selbsterziehung innere Objektivität aneignet.
Damit ist aber der Weg angedeutet, den derjenige einschlägt, der neben der auf ihrem Gebiete berechtigten Natur-Erkenntnis eine wahre Geist-Erkenntnis gelten läßt. Und dieser kommt es zu, das Wesen des Seelischen aufzuschließen.
Sie muß eine wirkliche Erziehungs- und Unterrichtskunst tragen, denn sie führt zu einer Menschenerkenntnis, die so in sich bewegliche, lebendige Ideen hat, daß der Erzieher sie in die praktische Anschauung der einzelnen kindlichen Individualität umsetzen kann. Und erst wer dieses vermag, für den gewinnt die Forderung, nach der Kindesindividualität zu erziehen und zu unterrichten, eine praktische Bedeutung.“ —
„Die hier gemeinte Geist-Erkenntnis führt nicht, nach dem Vorbilde der Naturerkenntnis, zum Vorstellen allgemeiner Ideen, um diese im einzelnen Falle anzuwenden, sondern sie erzieht den Menschen zu einer Seelenverfassung, die den einzelnen Fall in seiner Selbständigkeit schauend erlebt.“ — (Zeitschrift „Soziale Zukunft“, Heft 5-7: Erziehungskunst 1921.)
Es ist hier nicht der Ort, eine Darstellung der Erkenntnis der kindlichen Seele auf Grund von Dr. Steiners Forschungen zu geben. Ich mußte sie aber wenigstens skizzenhaft andeuten, weil es mir nur auf Grund seiner Pädagogik möglich war, eine Synthese dessen zu finden, was ich wie viele verstreute Einzelteile eines Mosaiks in den anfangs angeführten pädagogischen Schriften fand, die ich doch durch sich selbst nicht zum Bilde zusammenfügen konnte, so gern ich das auch wollte.
Und ich konnte dasjenige, was ich in Goethes Geistesart Besonderes fand, was in seinen Werken und in seinem Leben - auf die Erziehung des Kindes angewandt - doch mehr als Forderung enthalten ist, erst da als „eigentliche Theorie“ empfinden, d.h. als eine solche, die sich realisieren kann und sogar danach strebt, weil sie eben lebendig ist, - als ich mich vertiefte in Dr. Steiners Pädagogik. Durch diese besteht auch erst die Möglichkeit zu einem Versuch, sie in Erziehung und Unterricht zu gestalten.
WALDORFSCHULPÄDAGOGIK
Aus diesen beiden Gründen allein habe ich geisteswissenschaftliche Pädagogik hier erwähnen müssen. So, wie sie ihrer Art nach gehandhabt sein will und wie sie seit sieben Jahren in der „Freien Waldorfschule“ ausgeübt wird, konnte ich sie nie im Schuldienst anwenden; aber ich habe versucht, im Rahmen der mir im Schuldienst gestellten Aufgaben, in methodische Handhabung des Stoffes und in erziehliche Maßnahmen das einfließen zu lassen, was ich an eigener Erziehung zur Erkenntnis der kindlichen Individualitäten Rudolf Steiners Pädagogik verdanke. Und ich muß - ehe ich im einzelnen davon spreche - herzlich bitten, das, was an meinen eigenen Versuchen unzulänglich ist und sein muß, nicht Rudolf Steiners Pädagogik zuzuschreiben, sondern nur mir.
Das was ich versuchte zu gestalten, verhält sich zur Waldorfschulpädagogik wie das Buchstabieren eines Kindes zum geläufigen Lesen eines Erwachsenen. Und meine Lebensarbeit wird es - wie ich hoffe - sein, dieses Lesen immer besser zu lernen.
Wenn ich von lebendiger Gestaltung von Erziehung und Unterricht sprach, so meine ich damit, in Übereinstimmung mit dem bisher Ausgeführten, daß ich meine Maßnahmen von nichts anderem bestimmen lassen wollte als von dem Leben selber, in diesem Falle von den Notwendigkeiten der kindlichen Entwickelung. Wollte ich meine Kinder führen, dem in ihnen lebendig Gegebenen entsprechend, so konnte es nur geschehen, indem ich versuchte, immer von neuem „in zarter Empirie“ mir eine „eigentliche Theorie“ davon zu verschaffen.
Und wenn ich das Wort „künstlerisch“ gebrauchte, so bitte ich, es ja nicht mit ästhetisch gleichzusetzen. Eine ästhetische Bildung im heutigen Sinne dieses Wortes würde sich nur auf begrenzte Gebiete erstrecken, etwa auf die sogenannten „Kunstfächer.“ Das Ästhetische, das auf diese Weise den Kindern nahegebracht wird, wird allzuleicht nur ein Gegengewicht gegenüber den anderen Fächern bleiben. Das kann aber nicht das Ziel der wahren Kunstpflege sein. Sie darf nicht den Eindruck im Kinde erwecken, als wäre Kunst ein schönes Beiwerk, das schließlich auch zu entbehren sei, besonders im harten Lebenskampf.
Goethe sagt von der „wahren Kunst“, daß „sie wie gute Gesellschaft ist: sie nötigt uns auf die angenehmste Weise, das Maß zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist.“ (Wilhelm Meisters Lehrjahre 7.Buch, Kap.3.)
Eine solche Kunst wird nicht nur als Fach den Kindern dargeboten werden, sie wird nicht nur den ganzen Unterricht beleben, sondern auch die erziehliche Behandlung wird dadurch fruchtbar gemacht werden. Es wird dabei wenig über Kunst doziert werden; also nicht intellektuell werden die Kinder etwas über sie aufzunehmen haben. Sie muß gewissermaßen in der Luft liegen, die die Kinder umgibt, damit diese sie einatmen, an ihr wachsen, sich geistig, seelisch und körperlich durch sie aufbauen.
Es wird klar sein, daß es bei Versuchen, auf die eben angedeutete Weise zu erziehen und zu unterrichten, besonders schwierig ist, darüber zu berichten. Ich werde daher versuchen, möglichst viele Einzelbilder zu zeichnen und hoffe, daß sie sich schließlich zu einem Gesamtbilde zusammenfügen.
MEINE LEHRERZEIT IN KÖSLIN
Nach Pfingsten 1925 wurden elf Kinder in die Fürstin-Bismarck-Schule in Köslin aufgenommen, die nur eine dreijährige Grundschule hinter sich hatten. Ich bekam die Aufgabe, diese Kinder, die aus vier verschiedenen Schulen zusammengewürfelt waren, in den drei Wochen bis zu den Sommerferien so weit zu fördern, besonders im Englischen, daß sie mit den Schülerinnen der beiden Parallelklassen Schritt halten konnten. Da der Stundenplan für die übrige Schule schon fertig war, so hatte ich das große Glück, fast den gesamten Unterricht in meiner Klasse, bis auf Religion und Singen, erteilen zu dürfen.
Nach den großen Ferien kamen aus den beiden bestehenden überfüllten Sexten je elf Kinder dazu, so daß ich nun vor der Aufgabe stand, aus diesen drei Gliedern ein harmonisches Ganzes zu gestalten, um die Möglichkeit zu einer gesunden Entwickelung für die Kinder zu schaffen.
Für die Mehrzahl der Kinder war es der zweite Wechsel innerhalb eines Vierteljahrs, für manche gar der dritte. Dadurch mußte - das sagte ich mir und empfand es auch deutlich - eine störende Unruhe in das Wesen der Kinder hineingekommen sein; sie mußten sich innerlich hin- und hergerissen fühlen. Dafür hatte ich den Ausgleich zu schaffen.
Die erste Möglichkeit dazu lag in den gegebenen Verhältnissen: daß nämlich nun die Kinder ganz von einer Individualität geleitet wurden und nicht in jeder Unterrichtsstunde sich auf eine andere einzustellen hatten. Das empfand ich mit großer Dankbarkeit als eine wirksame Hilfe das ganze Jahr hindurch. Allerdings lag darin auch eine ungeheure Verantwortung. Aber gerade das Bewußtsein, daß dreiunddreißig Kinder in diesem für ihre Entwickelung so wichtigen Alter in Unterricht und Schulerziehung so ganz in meine Hände gegeben waren, feuerte mich immer wieder an, dem von der Schulleitung in mich gesetzten Vertrauen so gut wie irgend möglich zu entsprechen.
Ich war mir dessen bewußt, daß durch das Darleben meines Wesens - ebenso sehr durch Gefühle, Gedanken und Gebärden als durch Worte - für das spätere Leben der Kinder Segen oder Unsegen erwachsen werde. (Wilhelm Meister, 7.Buch 1.Kap.: „Alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei.“)
Und so stand als erste und vornehmste Aufgabe vor mir die Selbsterziehung; fast möchte ich sagen, ich habe nur mich in diesem Jahre erzogen. Ich will im Folgenden zunächst erzählen, wie ich in einzelnen Unterrichtsfächern versuchte, die zusammengewürfelte Klasse zu einer Einheit zu verschmelzen und die Darstellung des Stoffes so zu gestalten, daß er dem Alter, dem Wesen meiner Kinder angemessen war, kurz, wie ich versuchte, den Unterricht lebensvoll zu gestalten.
Das was zur Lösung dieser beiden Aufgaben notwendig war, brauchte nicht weit hergeholt zu werden. Die Neigung der Kinder dieses Alters zum Staunen, Bewundern kam mir hilfreich entgegen. Der Stoff mußte nur so gestaltet sein, daß in ihm etwas im Mittelpunkt stand, um das alle in selbstverständlicher Verehrung, in sonstiger inniger Teilnahme sich scharen konnten, so war die nötige Vorbedingung geschaffen.
BEISPIEL DES LEBENDIGEN UNTERRICHTENS: BIOLOGIE
An einem Beispiel aus dem Biologieunterricht will ich das erläutern. - Ich hatte zu behandeln die Familie der Nachtschattengewächse, insonderheit die Kartoffel. Das, was das Lehrbuch bot, fand ich der Denk- und Sprechweise der Erwachsenen, die vorwiegend intellektuell ist, angemessen, nicht der phantasievollen, bilderreichen dieses kindlichen Alters. Ich mußte also selbst eine möglichst geeignete Form finden.
Ich sagte mir, daß ich erst für mich selber ein deutliches Bild des Charakteristischen, der Einzelheiten dieser Pflanzenfamilie gewinnen müsse. Ich stellte mir das Bild einer normalen Pflanze vor, die durch eine feste Wurzel im Erdreich verankert ist, im grünen Stengel und den Blättern das Auf- und Absteigen der Säfte, das willige Hingegebensein an Luft und Licht zeigt, die in der Blüte, in Farben und Duft etwas Sonnenhaftes hat. (Vgl. die Metamorphose der Pflanzen.)
Damit verglich ich die Nachtschattengewächse: Kartoffel, Bilsenkraut, Stechapfel, Tabak, schwarzen und bittersüßen Nachtschatten, Tollkirsche, Judenkirsche, Tomate, Petunie. Keine dieser Pflanzen, außer der Petunie, hat eine schöne Blüte: vielmehr ist sie schmutzig gefärbt, unscheinbar, meistens tief in den Kelch hinein verkrochen, als fürchte sie das Licht.
Auch Duft zeigt keine der Blüten, bis auf die Petunie. Dafür zeigen aber alle grünen Teile, besonders die Blätter, einen stechenden, widerlichen Geruch. Alle grünen Teile sind sehr giftig, nur bei Tomate und Petunie in geringerem Maße. Einzelne Pflanzen lieben übelriechende Schutt- und Kehrichthaufen als Wohnort.
Die Stengel gehen tief in die Erde hinein, also in das Element, das eigentlich nicht zu ihnen gehört; ja, bei der Kartoffel verdickt sich der Stengel unterirdisch zu der eßbaren Knolle.
Die Früchte, die Sonnengeschenke anderer Pflanzen, stecken tief in stachligen, klebrigen Hülsen drin; teilweise unterbleibt die Fruchtbildung ganz. Alles Leben dieser Gewächse scheint sich der Sonne entziehen, sich in die Erde verkriechen zu wollen.
Aus diesen Eigentümlichkeiten der Familie formte sich für meine Kinder eine Geschichte, die ich hier nur andeutungsweise wiedergebe; ich kann es gar nicht anders, da die Gegenwart der Kinder selber die beste Formerin von Geschichten und Märchen ist.
„Es waren einige Pflanzen hochmütig geworden und sprachen zur Sonne: ,Wir brauchen dich nicht mehr, wir können selber Stengel, Blätter, Blüten und Früchte hervorbringen; wir können es sogar besser ohne dich.‘ Die Kartoffel verkroch sich mit ihrem Stengel tief in die Erde; einige zogen sich ein dichtes Haarkleid an, damit die Sonne so wenig wie möglich an sie heran konnte. Sie zogen ihre Blüten tief hinein in lange, haarige oder schmutzig-klebrige oder stachlige Kelche: da wurden die Blüten klein und hatten gar keine schöne leuchtende Farbe mehr und dufteten auch nicht, weil sie das Geschenk von Farbe und Duft von der Sonne nicht mehr annehmen wollten.
Der Nachtschatten suchte sich Stellen aus, wo er an der Erde entlang kriechen oder sich unter anderen Pflanzen verstecken konnte. Die Tollkirsche wuchs im Walde, wo kaum ein Sonnenstrahl sie finden konnte. Da strafte die Sonne die hochmütigen Pflanzen und machte alles Grüne an den Pflanzen sehr giftig, daß Menschen und Tiere von wenigen Tropfen des Saftes sterben müssen; sie gab den Blättern einen scheußlichen Geruch, daß niemand sie anfassen mochte. Und wenn eine rote Kartoffelknolle aus der Erde herausguckte, wurde sie auch gleich grün und giftig.
Tiere und Menschen fürchteten sich vor diesen finsteren Pflanzen; und sie wurden Nachtschatten genannt. Nur zwei von ihnen waren später traurig über ihren Hochmut, die Tomatenpflanze und die Petunie. Sie gingen zur Sonne und baten sie um Verzeihung. Da erbarmte sich die Sonne über sie und schenkte der Tomatenpflanze eine schöne, rote, nichtgiftige Frucht und der Petunie große, leuchtende und süßduftende Blüten.“
Diese kurze Erzählung stellte ich an den Anfang der Betrachtung, behandelte dann in mehreren Stunden die verschiedenen wichtigen Pflanzen, wobei die Kinder, angeregt durch die Erzählung und immer wieder darauf zurückkommend‚ die Einzelheiten selbst lebhaft suchten und fanden.
Ich ließ die Erzählung hier, wie sonst auch manchmal, nicht sofort wiedergeben, um sie ungestört in den Kindern wirken zu lassen. Zur nächsten Stunde habe ich aber so hübsche mündliche und schriftliche Berichte bekommen, daß ich sehr erstaunt darüber war. Einige stellten auch das Wesentliche der Nachtschatten in der Malstunde so tief erfaßt dar, daß ich nun wieder die Lernende sein konnte.
Wenn auf diese Weise die ganze Betrachtung der Nachtschattengewächse einen ernsten, zur Selbstbesinnung anregenden Hintergrund hatte, so waltete eine völlig andere Stimmung bei der Durchnahme der Schmetterlingsblütler, dieser die Erde, das Feste fast fliehenden (s. Bohne, Erbse, Wicke), dem Luftigen und den Luftgeschöpfen (Name!) innigst hingegebenen Gewächse. Man braucht sich nur deutlich das dem Winde möglichst viel Spielraum bietende Laub der Akazien, Robinien, Glyzinien, des Goldregens und der schon genannten Leguminosen, die sich wiegenden, alle Starrheit überwindenden Stiele und Blütentrauben vorzustellen, so wird man das Gesagte nachempfinden. Wenn daher eben noch in der Betrachtung der Nachtschatten ein mehr melancholisches Element vorherrschte, so durften wir mit den Schmetterlingsblütlern leicht bewegte Sanguiniker sein.
Ein ander Mal, bei der Durchnahme der Glockenblume, bemühte ich mich, in Worten, Ton und Geste etwas Ruhig-Feierliches auszudrücken, indem ich einen Grashang in mittäglicher Sommersonnenglut beschrieb, der mit Glockenblumen bestanden war und von samtröckigen Hummeln besucht wurde.
Diese wenigen Beispiele mögen andeuten, wie ich bemüht war, den Biologieunterricht in ein phantasievolles, lebendiges Element zu kleiden, das gleicherweise das Denken, Fühlen und Wollen ergreifen und bilden konnte. In entsprechender Weise, das ganz Andersartige des Tierreichs betonend, geschah es im Winter in der Zoologie.
DIE DREI EHRFURCHTEN IN DER PÄDAGOGISCHEN PROVINZ
Jedes Mal suchte ich die Form der Darstellung so zu gestalten, daß sie wahrhaftig war, d.h.,daß Äußeres und Inneres sich entsprachen. Es ist wohl selbstverständlich, daß je nach dem Stoff entweder ich darstellte, von den Kindern an Hand der Pflanzen selbst entwickeln ließ oder beide Weisen vereinigte. Auf die angedeutete Art wollte ich noch zweierlei anderes erreichen: nämlich ein bewegtes Auf und Ab, Rhythmus, überhaupt ein musikalisches Element in den Gang des Unterrichts und der einzelnen Stunde zu bringen und in den Kindern das Gefühl des Staunens, der Ehrfurcht vor den in der Natur und in ihnen selbst schaffenden und formenden Kräften, das Gefühl der Dankbarkeit vor den unteren Naturreichen zu wecken. Ich erinnere hier nur nebenbei an den Abschnitt über die drei Ehrfurchten in Wilhelm Meisters Wanderjahren, auf den ich zum Schluß ausführlich eingehen werde.
„Eines bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, daß der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei: die Ehrfurcht...“ (II.Buch 2.Kap.)
Wenn ich davon sprach, wie ich versuchte, Rhythmus, ja, allgemeiner: etwas Musikalisches im Unterricht walten zu lassen, so möchte ich hier, wo ich dazu übergehen will, vom Sprachunterricht zu erzählen, zur genaueren Orientierung einige Worte aus Wilhelm Meisters Wanderjahren einfügen:
„Bei uns ist der Gesang die erste Stufe der Ausbildung (in der pädagogischen Provinz), alles andere schließt sich daran und wird dadurch vermittelt. Der einfachste Genuß, so wie die einfachste Lehre werden bei uns durch Gesang belebt und eingeprägt, ja selbst, was wir vermitteln von Glaubens- und Sittenbekenntnis, wird auf dem Wege des Gesanges mitgeteilt. . .“
Der Aufseher führt dann aus, wie die einzelnen Fächer durch die Töne belebt und gefördert werden und schließt mit den Worten:
„Deshalb haben wir denn unter allem Denkbaren die Musik zum Element unserer Erziehung gewählt, denn von ihr laufen gleichgebaute Wege nach allen Seiten.“ (II.Buch 2.Kap.)
In Kapitel 9 des II.Buches, dem zweiten über die pädagogische Provinz, wird ausführlich die Bedeutung des Musikalisch-Künstlerischen für die Bildung der Zöglinge dargestellt.
Ich gestehe, daß mich das zunächst alles fremd anmutete und ich nicht recht wußte, was ich damit anfangen sollte, bis ich durch Goethe selber und durch Rudolf Steiner die Antwort, die Anweisung zur Realisierung zu finden glaubte.
Das Wort: „Es kommt bloß darauf an, ob der Gedanke, das Aperçu, die Tat lebendig sei und fortzuleben vermöge“, Goethes ganze innerlich lebendige Denk- und Anschauungsweise, die immer mit den Dingen sich zu wandeln bereit war, wiesen mich darauf hin, nicht wörtlich tot das Angeführte anzuwenden, sondern mir die darin verborgenen Ideen anzueignen und dann zu sehen, ob sie dem heute Gegebenen, meinen Kindern nämlich, angemessen seien. Nie hätte ich allein dieses Letzte gekonnt. Ich fand die Möglichkeit dazu durch den „Lehrerkurs“ Dr.Steiners („Der Lehrerkurs Dr. Rudolf Steiners im Goetheanum 1921“), wo es u. a. heißt:
„Vom siebenten bis zehnten Jahr will das Kind alles, was an es herandringt, in einem inneren Rhythmus und Takte ausleben, der sich mit seinem eigenen Bewegungssystem, der Herz- und Atmungstätigkeit, zusammenfügt...“ (S.65 ff.)
„Das Kind tritt in dieser Epoche mit durch und durch künstlerischen Tendenzen in die Schulstube. Allem Geschehen bringt es einen Trieb entgegen, der Rhythmus und Melodie in sich trägt. Es will nicht aus dem Gedanken, sondern aus dem Willen heraus erleben.“ (S.67.)
Ich hoffe, daß einigermaßen verständlich ist, wie ich in dem Biologieunterrichte versuchte, dieses musikalische Element walten zu lassen durch die stets sich wandelnde Art der Stoffbehandlung, wobei durch die wechselnde Spannung und Entspannung der Gefühle und Gedanken die Willenskräfte angefeuert wurden.
DER LEBENDIGE DEUTSCHUNTERRICHT
Am meisten habe ich wohl den Deutschunterricht in dieses Element tauchen können. Freilich ist es da schwerer zu beschreiben.
Einige Beispiele mögen mir wieder dabei helfen.
Im Mittelpunkt jeder Wochenarbeit stand ein Märchen, hier und da Tier- und Pflanzengeschichten, gegen den Schluß des Jahres auch Sagen. Da ich - allerdings schon früher - die Bemerkung gemacht hatte, daß der erste Eindruck viel inniger und nachhaltiger nach dem erzählten als dem gelesenen Wort wird, - abgesehen von der größeren Ermüdung durch das Vorlesen, - so habe ich meistens die Märchen usw. selbst erzählt. Beim Erzählen Grimmscher Märchen hielt ich mich möglichst genau an die Sprache des Märchenbuchs. Ich suchte die Märchen, Geschichten und Sagen, wo es irgend anging, so aus, daß sie in innerer Beziehung zu dem übrigen Stoff, etwa zur Heimatkunde, zu ihrem eigenen oder dem Erleben der Klasse standen, und vor allem so, daß sie den Kindern etwas vermittelten, weniger gedanklich als phantasievoll, von dem Rhythmus der Jahreszeiten und Feste.
Manche Geschichten entstanden auch eigens für meine Kinder dadurch, daß ich versuchte, in ihrer Art die mir für sie wichtig erscheinenden Dinge zu erleben.
Beim Erzählen dieser Geschichten lernte ich allmählich darauf achten, daß Spannung und Entspannung sich in gesunder Weise ablösten. Waren die Kinder innerlich ganz beschäftigt mit einem traurigen Ereignis, was bei einigen ja zu Tränen, zum Blaß- und Müdewerden, zum Atemanhalten besonders, führte, so gab ich hinterher möglichst die Gelegenheit zu einem Scherz, zum Lachen, zum Ausatmen gewissermaßen.
Die kleinen Seelen, die mehr oder weniger „außer sich“, d.h.fast völlig an die Geschichten hingegeben waren, was sich naturgemäß als Müdigkeit äußerte, mußten wieder zu sich kommen, wieder wach werden. So glücklich die Kinder waren, wenn sie sich ganz dem Erleben einer Begebenheit hingeben durften, so empfand ich ebenso deutlich ihre dankbare Befriedigung, wenn man sie durch einen Scherz, ein Lachen, etwas Komisches innerhalb der Erzählung wieder auf die Erde stellte.
Ich halte nach den gemachten Erfahrungen, nach den Irrtümern, die ich hierbei beging, jetzt Märchen und Geschichten mit nur einem Höhepunkt für die Kinder, wenigstens bis zum zwölften Jahre, nicht für geeignet, oft sogar für gefährlich; die Geschichten sollten mehrere kleine Höhepunkte, dazwischen episch-breite Stellen haben. Nur dann können sie gesund und gesundend auf die Kinder wirken. Und die rechten Märchen sind alle in diesem Rhythmus geschrieben, ja, sie enthalten oft sogar etwas variierte Wiederholungen, Kehrreime, die uns intellektuell verbildete Erwachsene gar langweilen können, den Kindern aber höchste Befriedigung gewähren. Mit Wonne und ohne daß sie aufgefordert werden, sprechen die Kinder die Kehrreime mit und ermüden daran nicht. Als Beispiel für das Letzte führe ich an: Schneewittchen, Aschenbrödel, die Gänsemagd, de Fischer un sine Fru, Frau Holle, Der Froschkönig und der eiserne Heinrich.
Diese Geschichten erzählte ich zu Anfang der Woche oder in Verbindung mit der Malstunde, ließ sie meistens nicht am selben Tage wiedergeben, sondern erst am nächsten; manchmal in Form eines Bildes, manchmal auch gar nicht, etwa bei ernsten Geschichten in der Passionszeit. Ich griff dann vielleicht hier und da mit einem Wort darauf zurück.
Es lag mir bei diesen Erzählungen in erster Linie daran, den Kindern eine Wegzehrung für ihre Lebensreise durch die Woche, durch das Jahr mitzugeben, etwas Heiliges, Heilendes ihnen zu schenken, das mit ihnen wachsen und, in späterem Alter verwandelt, reiche Früchte tragen könne.
In welcher Beziehung diese Erzählungen zu dem Malunterricht standen, werde ich an der entsprechenden Stelle näher ausführen. Zu Lese- und Sprechübungen habe ich bewußt diese Geschichten nicht verwandt, sie sollten im Stillen wirken, in die Tiefe gehen, nicht in die Breite. Diesem Zweck dienten Natur- und Kulturschilderungen, Lebensbilder, Zusammenstellung bekannter Volkssitten, die Wiedergaben in der Heimatkunde usw.
Es kann den Anschein haben, als hätte das Erzählen einen zu großen Raum innerhalb des Unterrichts eingenommen, vielleicht auch, als hätten die Kinder zu viel passiv aufnehmend dagesessen, anstatt sich zu betätigen. Doch dafür hätten schon die fröhliche Lebhaftigkeit meiner Klasse und der zu bewältigende Stoff, der durch die Kinder mit dreijähriger Grundschule groß war, gesorgt, wenn ich es nicht selbst gewollt hätte. Über die grammatischen Übungen und diejenigen in der Rechtschreibung, welche beide immer zu meiner Freude mit besonderer Lebhaftigkeit gemacht wurden, möchte ich nichts sagen, um nicht durch Selbstverständlichkeiten zu ermüden.
SPRACHÜBUNGEN
Was die Sprachübungen betrifft, so bemühte ich mich, sie so individuell wie möglich zu halten. Beim Üben des Lesens an Lesestücken kam es mir mehr auf die Sinngemäßheit‚ Exaktheit an, als auf die Anpassung an Wortklang und Rhythmus, die wir an vielen Gedichten herauszubringen versuchten. Auf diese Weise sollte es den Kindern zum Erlebnis werden, welch ein Unterschied herrscht zwischen der mehr in das Gedanklich-Plastische gekleideten Prosa und der mehr musikalischen, den Willen und das Gefühl ergreifenden Poesie.
Das Erwerben der Fähigkeit, das Einüben geschah deshalb mehr an der Prosa, das Ausüben der erworbenen Fähigkeit mehr an Gedichten. Je nach den individuellen Schwierigkeiten handhabte ich daher die Übungen an der Prosa.
Ich zeigte den Betreffenden, wie sie zu Hause zu üben hätten, ließ mir oft von ihnen gegen Schluß der Stunde die geübten oder fremden Abschnitte vorführen, damit sie es auch richtig machten.
Ein sehr phlegmatisches, zu Sentimentalität und Denkfaulheit neigendes Mädchen, bei dem ich allmählich den Eindruck gewann, als habe es zu wenig plastische Formkraft in sich, als zerfließ es am liebsten, als ergreife der Wille weder das Fühlen noch das Denken, ließ ich täglich einige Reihen in folgender Weise üben:
es mußte gewissermaßen staccato zuerst Silbe für Silbe, dann Wort für Wort, zuletzt erst im Zusammenhang lesen, indem jeder Laut scharf und deutlich ausgesprochen wurde.
Dieses Kind las vorher sehr schlecht, es stockte fortgesetzt und las Wörter, ja ganze Sätze, die gar nicht dastanden. Auch in der Rechtschreibung war es ganz willkürlich. Durch diese Übungen wurde es genötigt, gründlich hinzusehen, das Silben- und Wortbild bis auf jeden Einzellaut zu erfassen, kurz, es mußte seinen Willen betätigen und regsamer werden. Damit es nicht seinen eigenen Gedanken sich hingeben konnte, sondern auf den gegebenen Text sich ganz konzentrieren mußte, ließ ich es manchmal sogar die Sätze rückwärts, dann wieder vorwärts lesen.
Ein anderes Kind, das vor lauter Lesefertigkeit oft den Wörtern davonlief und sich geradezu überstürzte vor Eifer, dem es in seiner Fertigkeit also an Disziplin fehlte, ließ ich ein und denselben Text abwechselnd in verschiedenem Tempo lesen, einmal ganz langsam, dann wieder sehr schnell, ohne daß es dabei ungenau werden durfte. Der Text mußte bei diesem Kinde immer bald gewechselt werden, da es ihn sonst auswendig hersagte und nicht las. Bei diesem Kinde habe ich die Freude gehabt, daß durch diese und andere Maßnahmen, auf die ich später noch eingehen werde, der kleine durchgehende, oft auch schimpfende Choleriker sich besänftigt hat.
Ich bedaure heute, damals die Lese- und Sprechübungen, die den Kindern auch Spaß machten, nicht viel mehr in den Vordergrund gestellt zu haben. Ich weiß jetzt aus Erfahrungen, die ich damals ja erst machte, daß von ihnen - wie bei der Musik im Wilhelm Meister - „gleichgebahnte Wege nach allen Seiten laufen“, zur Wort- und Satzlehre, zur Rechtschreibung, zur Erziehung durch Anstrengung des Willens, durch Beweglichmachen des Intellekts und alles durchsetzend zur Ehrfurcht vor dem Wort. Diese kam naturgemäß noch vielmehr beim Einlesen und Deklamieren von Gedichten zur Geltung. Zuerst las ich dabei das Gedicht ein- oder mehrmals vor, ohne daß die Kinder mitlasen; sie hatten nur zu horchen.
Später beim Deklamieren gewöhnte sich die lebhafte kleine Gesellschaft bald daran, jede Störung zu unterlassen, jedes Melden bei Fehlern, zustimmende oder ablehnende Bewegungen, sogar das Ansehen der Sprecherin, und nur zuzuhören.
Allmählich lernten die Kinder dadurch in feinem Empfinden zu urteilen über selbstgefälliges, pathetisches, geleiertes oder sonst ungemäßes Vortragen oder sich über gesetzmäßiges Deklamieren zu freuen, das dem in dem Gedichte lebenden Klang der Worte, dem Rhythmus, der Stimmung abgelauscht und dadurch ebenso innig erlebt wie in der Form beherrscht war. Solche Leistungen kamen allerdings nur selten vor, haben sich aber den Kindern wie mir deutlich eingeprägt.
DER ENGLISCHE SPRACHUNTERRICHT
Über den englischen Sprachunterricht möchte ich nur andeutend folgendes sagen:
Demjenigen entsprechend, was ich oben über das musikalische Element, dem Sehnen nach Rhythmus, Takt usw., das dieses Stadium der kindlichen Entwickelung kennzeichnet, ausgeführt habe, mußte das gesprochene Wort im Mittelpunkt stehen.
Unbekannte Wortgruppen oder späterhin neue Lektionen brachte ich den Kindern so entgegen, daß ich ihnen jene langsam und deutlich vorsprach, diese, durch Gesten belebt, erzählte.
Wenn es nötig war, geschah es noch ein zweites Mal, wobei ich die neuen Wörter an die Tafel schrieb. Dabei gab ich kein Wort auf Deutsch wieder, erklärte es entweder Englisch oder ließ es aus dem Inhalt erraten. Je nach dem behandelten Stoff verständigten wir uns nun auf Englisch in Frage und Antwort über das Gehörte, oder ich begann gleich das Lesen der Lektion - satz- oder abschnittweise, einzeln und im Chor - einzuüben. Das Übersetzen folgte immer erst, wenn gut gelesen worden war.
Auf diese nur sehr skizzenhaft angedeutete Art wollte ich erreichen, daß die Kinder allein durch die Hingabe an den Klang der Sprache sie sich auch dem Inhalte nach aneigneten. Aus diesem Grunde ließ ich auch - was mir besonders bei der englischen Sprache selbstverständlich erschien - das Schriftbild meistens erst dann auf die Kinder wirken, wenn der Wortklang einen, wenn auch noch so schwachen Eindruck hinterlassen hatte. Das willensmäßige Ergreifen und Nachbilden des Klanges sollte vor der mehr sondernden Tätigkeit des Intellekts, der erst später berechtigt in den Vordergrund tritt, stehen.
Auch war ich der Ansicht, das Einleben in die fremde Sprache durch die Nachahmung des durch das Gehör aufgenommenen Wortes sei ihrer Aneignung auf dem Umwege über das Buch vorzuziehen; entspricht dies doch dem Wege, den die Natur mit uns geht.
Soviel es irgend anging, versuchte ich den Kindern schon auf dieser Stufe das lebendige Werden der Sprachen, ihre Beziehungen zueinander anzudeuten. Das ergab sich um so leichter, als nicht nur Kösliner, sondern auch Kinder aus anderen Gegenden in der Klasse waren, auch solche, die verschiedenes Platt sprachen.
Mir selbst kam dabei sehr zustatten, mehrere plattdeutsche Dialekte zu beherrschen.
So konnten wir manchmal von Unterschieden zwischen unsern pommerschen Mundarten übergehen zu denjenigen zwischen der deutschen und englischen Sprache.
HEIMATKUNDE
Im Heimatkundeunterricht hatte ich damit zu rechnen, daß der Stoff, d.h.Namen und Daten für einen Teil der Kinder wenig Neues bot. (Nach dem damaligen Lehrplan im Sommer:
Erarbeitung geographischer Grundbegriffe an der Stadt Köslin und ihrem Umkreis; im Winter: die Heimatprovinz.)
Ich mußte daher den Stoff so gestalten, daß er den Kindern als etwas Neues erschien.
Ich versuchte das, indem ich die Kinder das Werden der Provinz, ihrer verschiedenen Eigenarten in vielen einzelnen Bildern erleben ließ. Zweierlei war mir, dem Wesen des Kindesalters entsprechend, bei der Gestaltung besonders wichtig; erstens die Erde oder das kleine zu behandelnde Erdgebiet nicht als etwas Fertiges, Totes, sondern als einen werdenden, lebendigen Organismus darzustellen, mit dessen Entwicklung die Menschheit als Ganzes und jeder einzelne innigst verknüpft, und an dessen Wohl oder Wehe er mitzuarbeiten berufen ist;
zweitens wollte ich dem naturgemäßen Gefallen der Kinder besonders dieser Stufe an bewegtem Geschehen, am Auf und Ab des Werdens und Vergehens, am Mitlachen und Mitweinen entsprechen.
In der Sexta kann die Behandlung der Erde in dieser Richtung nur wie darstellend, schenkend für unbewußte Aufnahme sein.
In den folgenden Klassen würde das in immer sich wandelnder Weise, der Entwickelung der Kinder gemäß, zu größerer Klarheit zu bringen sein, z.B.bei der Durchnahme der Erdzonen nach geographischer, klimatischer, kultureller Hinsicht, nach Verschiedenheit der Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt, nach ihrer Bedeutung in Wirtschafts- und Geistesleben.
In der Sexta, bei der mehr empfindungsgemäßen Aufnahme der Kinder muß Formung des Inhalts von größter unterrichtlicher wie erziehlicher Hinsicht sein. Nicht die Wissenschaft der Dinge, die den Erwachsenen gemäß ist, wollen die Kinder, sondern das wirkende Leben.
Das, was ich über das Finden der lebenswarmen Form für die einzelnen Stoffe beim Biologieunterricht gesagt habe, gilt auch hier; ich führe es deshalb nicht noch einmal aus. Und wenn ich einzelne Beispiele anführe, so kann das nur andeutungsweise geschehen, weil die Gegenwart der Kinder, das eigentlich schaffende, formende Element, fehlt.
Bei der Besprechung des scheinbaren Sonnenlaufs und der von den Kindern in dieser Gegend (Wiesen, Seen, Strand, Wald) beobachteten Erscheinungen beschäftigten sie sich besonders lebhaft mit Tau, Nebel, Temperaturwechsel.
Es kamen hinzu Beobachtungen über Wärme und Kälte des Meerwassers zu verschiedenen Tageszeiten, über See- und Landwind. Alle die vielen von den Kindern selbst gebrachten Einzelwahrnehmungen stellte ich dann noch einmal zusammenhängend dar, wobei die Tätigen und Erlebenden Erde, Wasser, Luft und Sonne waren.
Die anfänglich große Erregung der Kinder über die fraglichen Erscheinungen verwandelten sich dabei in ruhiges Staunen und brach schließlich in den freudigen Ruf aus:
„Das ist ja wie das Einatmen und Ausatmen beim Menschen.“
DIE GESCHICHTE POMMERNS
In der Darstellung Pommerns fing ich bei der Eiszeit an, ließ die Kinder dabei erleben, wie einmal ein ganz langer Erdenwinter anbrach, wie das Eisgebirge entstand und von Norwegen über die Ostsee und Norddeutschland bis an die Sudeten wanderte, wie es später von Süden her immer wärmer wurde und schließlich schon südlich der Sudeten Menschen leben konnten.
Das Leben dieser Jäger und Fischer, ihre Kleidung, Waffen und Wohnweise wurde an dem Ergehen einer Familie geschildert (hier ordnete es sich zwanglos ein, später wurde bei Pommern festgestellt, daß die ersten Bewohner ähnlich lebten):
Sommerliche Jagdzüge des Vaters mit seinen Söhnen in das nördliche Gebirge; Erzählungen in der Ruhe der Winterabende von Abenteuern und von dem großen, unheimlichen Eis; überwältigende Eindrücke davon beim ersten Jagdzug des jüngsten Sohnes; in den folgenden Jahren Beobachtungen des Krachens, Schmelzens im Eisgebirge; Bildung eines stets sich verbreiternden Wasserlaufs zwischen dem Eis- und dem Felsengebirge (Urstrom); langsames Wandern der Nachkommen dieser Familie nach Norden, dem abtauenden Eise nach.
Bei dieser Behandlung wurden gemeinsam Zeichnungen angefertigt über Moränen, Urstromtäler (schematisch), die Bildung der hinterpommerschen Flüsse und Seen, das Vorkommen der Findlingsblöcke besprochen.
In vielen einzelnen Bildern folgte die Geschichte Pommerns, beginnend bei der wendischen Zeit über die Christianisierung und die von den Klöstern ausgehende Kultivierung und Besiedelung des Landes mit deutschen Bauern, über Burgen- und Städtebauten usw. bis zur Reformation.
Nach dieser geschichtlichen Behandlung, bei der die Kinder die Karte tüchtig benutzten, folgte die geographische, wobei wir überall auf das Bekannte zurückgriffen, es wohl auch erweitern und vertiefen konnten.
Wo es irgend möglich war, besprachen wir die noch zu beobachtenden Veränderungen der Bodengestalt durch das Meer (hinterpommersche Küste, Kirche bei Hoff, Rügen) durch Flüsse (Deltabildung: Oder - Reglitz). Die Umwandlung der Landschaftsbilder, der Bodenbeschaffenheit durch den Menschen: Odertal zwischen Garz und Stettin; Trockenlegung von Seen, Sümpfen, Kultivierung von Mooren, Kanalbauten; Entstehung der Wanderdünen am Lebasee (ein pommerscher Edelmann ließ an der höchsten Stelle der Landzunge eine Lichtung in den vorhandenen Wald schlagen, um seiner polnischen Gemahlin dort Schloß und Garten anzulegen) und ihre Festlegung und Aufforstung.
Auf diese Weise wurden die einzelnen Teile Pommerns in immer neuer Beziehung gezeigt, die Namen oftmals wiederholt. Es wurde der Grund zu dem Bewußtsein gelegt, daß m.E. den ganzen Geschichts- und Erdkundenunterricht durchziehen sollte, und das ihm seinen hohen erziehlichen Wert gibt; nämlich zu dem Bewußtsein, daß Gegenwart nur recht erlebt und gestaltet werden kann, wenn sie wurzelt in ehrfürchtiger Dankbarkeit vor dem Erbteil der Vergangenheit, auch wenn es voll Schwernis und Dunkelheit ist, und sie hineinwächst im Gefühl der Verantwortung in die Zukunft.
RECHENUNTERRICHT
Mit der Heimatkunde in Beziehung stand, wo es irgend anging, das Rechnen.
Doch kann ich darüber nichts Besonderes sagen; ich muß gestehen, daß ich zwar den Rechenunterricht keinesfalls in meinem Stundenplan hätte missen mögen, daß ich aber fast nie befriedigt von den Stunden war und doch nicht recht wußte, was und wie ich daran ändern sollte. Wenn es trotzdem in den Rechenstunden fröhlich und lebhaft zuging, so kam das durch die Kinder, nicht durch mich. Die einzige Erklärung hierfür ist vielleicht die, daß sich die Kinder innigst wohlfühlten, wenn innerhalb des phantasievollen übrigen Unterrichts ab und zu das scharfe disziplinierte Denken auftauchte; ebenso erschien es mir in den Grammatikstunden.
Jedes gewann an Wert durch das andere. Mir selber gaben die Rechenstunden durch ihre Besonderheit wichtige Aufschlüsse über die einzelnen Individualitäten.
DAS SITTLICHE WERDEN
Damit komme ich zu einem Neuen, indem ich von den einzelnen Unterrichtsfächern zu allgemeinen, den ganzen Unterricht durchziehenden Erziehungsmaßnahmen und ihren Vorbedingungen übergebe. Ich möchte diesen Teil überschreiben „Die Disziplin“, wobei ich unter Disziplin die Grundbedeutung Zucht, Ordnung verstehen und diese Bedeutung recht weit und tief gefaßt haben möchte. Ich verstehe darunter also nicht nur Innehaltung der Schulordnung durch die Kinder und durch mich, sondern vielmehr die Zucht, die ich auf mich selber und dadurch auf die Klasse ausübte, die besonderen erziehlichen Maßnahmen, die ich in Einzelfällen anwandte und die allgemein im Unterricht walteten. Ja, eigentlich gehört diese Gestaltung einzelner Unterrichtsfächer auch dazu, weil in dieser verborgen - und gerade deshalb so wichtig - die tiefgehenden Ursachen zu gesundem, sittlichem Werden liegen.
Bei einer Erziehungs- und Unterrichtsarbeit, deren Maßnahmen und Gestaltung so viel wie möglich dem Leben, d.h.den Kindern abgelauscht sein soll, wird die Erforschung der Individualitäten die erste Vorbedingung sein.
Der Aufseher in der Pädagogischen Provinz erklärt Wilhelm Meister hierüber: „Wohlgeborene, gesunde Kinder bringen viel mit. Die Natur hat jedem alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; dieses zu entwickeln, ist unsere Pflicht, öfter entwickelt's sich besser von selbst.“ (Wanderjahre, II.Band l.Kap.)
DIE TEMPERAMENTE UND DAS INDIVIDUELLE WESEN DES KINDES
Das, was meine Kinder an intellektuellen Kenntnissen und Fähigkeiten mitbrachten, glaubte ich bald einigermaßen zu wissen: aber sie brachten ja viel mehr mit; sie brachten jedes sein ganzes Seelenleben, sein Denken, Fühlen und Wollen in einem nur ihm eigenen Gewande mit, das durch sein Temperament gewebt und gefärbt war.
Diese Temperamente galt es zu erkennen, sie zu harmonisieren, für den Unterricht nutzbar zu machen. Für das Erkennen der Temperamente spielten die bewußten Äußerungen der Kinder eine untergeordnete Rolle neben den unbewußten. Das wußte ich.
Ganz, ganz langsam begann ich aus der Art, sich zu bewegen, beim Gehen, Spielen, Schreiben, Sätze zu bilden, aus den Zeichen- und Malübungen‚ aus Gesichtsausdruck und Wuchs etwas ablesen zu lernen über das Temperament und seine Stärke usw. Ich weiß, daß ich dabei manchesmal vorbeigedacht habe, weil es doch eben nicht leicht ist, das „reine Anschauen“ durch die „Vernunft“ zu entwickeln, und weil ich viel zu sehr, dem heutigen Denken gemäß, nur mit dem Verstande und nur diesen erfassen wollte, viel zu wenig achtgab auf den ganzen Menschen.
Immer wieder vertiefte ich mich in das, was Dr.Steiner hierüber, was die Lehrer der Waldorfschule aus ihrer Praxis heraus sagten. Ich versuchte, mir zu Hause die verschiedenen Kinder so genau wie möglich zu vergegenwärtigen bis in die einzelnen Züge ihres Aussehens, Auftretens, Sprechens. Ich tat das in erster Linie bei solchen Kindern, die in ihrem Wesen besondere Hemmungen, Schwierigkeiten, Krisen, Krankhaftes zeigten, deren Grund, ja deren Sinn oder Gefahr für die Entwickelung gerade dieses Kindes ich erforschen mußte, um einigermaßen fähig zu sein, die gestörte, beschleunigte oder verlangsamte Entwickelung wieder in die ihm gemäße Bahn zu lenken. D.h., ich versuchte, mir „die zarte Empirie“ zu erwerben, „die sich mit dem Gegenstande innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“ (Maximen und Reflexionen.)
Bei dem Nachdenken über die einzelnen Individualitäten kommt man, das habe ich oft erfahren, leicht in ein mechanisches Rechnen, Abwägen, Spekulieren hinein, indem man - aus unbewusster Bequemlichkeit vielleicht - das alltägliche kausale Denken über tote Dinge einfach auf das Lebendige überträgt, wie ich das im ersten Teile dieser Arbeit andeutete. Man sagt bequem: Ist dies so, nun, so folgt das und das daraus - oder man überträgt Folgerungen, die bei der einen Individualität richtig sind, auf ähnliche Erscheinungen einer andern und denkt nicht daran, daß das Leben so armselig nicht ist in seinen Formkräften, daß es zweimal dasselbe schaffen sollte.
Jedenfalls merkte ich immer, daß sich meinem rechnenden Verstand das lebendige Wesen immer entzog, daß ich wohl Einzelheiten konstatieren konnte, daß ich aber dadurch eigentlich etwas Homunkulusartiges, nicht aber Vollmenschliches vor mich hinstellte, weil eben das Leben darin fehlte.
Goethe sagt in einem Brief aus der Straßburger Zeit vom l4.Juli 1770:
„Der Leichnam ist nicht das ganze Tier (ein Schmetterling ist gemeint), es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück: das Leben...“
Ich mußte also bemüht sein, „das Leben“, „das geistige Band“, das Eine, Ganze, das in allen wahrgenommenen Einzelheiten seine Erscheinungsformen sich bildete, zu finden, indem ich versuchte, jede Individualität auf ihre eigene Weise zu erleben.
Ich habe damals erst angefangen, dies zu lernen, und ich stehe noch jetzt ganz am Anfang; ich bitte daher auch, das, wovon ich erzählen werde, nur als das zu nehmen, was es ist: als Lehrlingsarbeit. Ich bitte aber, auch in Betracht zu ziehen, daß über vieles gerade in dieser Hinsicht kaum gesprochen werden kann, weil es oft die intimsten seelischen Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler betrifft.
„DIE SINNLICH-SITTLICHE WIRKUNG DER FARBEN“
Eine unentbehrliche Hilfe beim Erkennen der Individualitäten war mir der Mal- und Zeichenunterricht, weil im Künstlerischen, in Farbe und Form unbewußter und daher unmittelbarer, wahrer als sonst in irgend einer Äußerung das Wesen der Kinder sich offenbarte. Rückblickend muß ich sagen, daß ohne diese Malstunden unserm Leben in der Sexta das Schönste gefehlt hätte, mir der wichtigste Zugang zu den Kinderseelen verschlossen gewesen wäre.
Ich mußte zuerst diesen Unterricht im Klassenzimmer geben, wo wir nur die trockenen Pastellfarben verwenden konnten. Erst später ließ es sich einrichten, daß auch für uns der Zeichensaal frei war und wir dann mit Wasserfarben malen konnten.
Anfangs habe ich die Kinder ganz abscheulich abstrakte Dinge zeichnen lassen, sogar mit Bleistift, die weder den Kindern noch mir Freude machten; jenen, weil sie nicht ihren ganzen Menschen, sondern nur ihren Intellekt dabei anzustrengen brauchten, nicht eigentlich produktiv sein konnten; mir, weil ich nichts Kindliches, Phantasievolles darin fand und merkte, daß ich Unwahres, Schädliches veranlaßte.
Dann machte ich zweimal kurz nacheinander Kurse in einem pädagogischen Arbeitskreis in Jena-Zwätzen mit, wo neben pädagogisch-wissenschaftlicher Arbeit auch das Künstlerische, u.a.das Malen, zu seinem Recht kam.
Ausgehend von den Anregungen, die ich durch diese Arbeit empfangen hatte, fing ich es ganz anders an. Vor allem beschäftigte ich mich selbst eingehend mit dem Kapitel über „sinnlich-sittliche Wirkung der Farben“ in Goethes Farbenlehre, um den Kindern die rechten Anweisungen geben zu können. (Besonders 758-802, 915 bis 920, auch 671, 696 und Vorwort.)
Wie in der Natur es nur die drei Grundfarben rot, gelb, blau gibt und aus diesen sich alle anderen bilden lassen, so rührten wir auch nur diese an (in besonderen Fällen erlaubte ich eine Ausnahme), wobei die Wahl von Zinnober und Karmin und Preußischblau, Ultramarin und Kobalt erlaubt war. Wir feuchteten das Papier mit dem Schwamm an, malten also auf feuchtem Grunde mit flüssiger Farbe.
Zunächst ging ich vom Einfachsten aus: zwei verschiedene Farben wurden nebeneinander gesetzt, sie sollten sich berühren, ohne die betreffende Mischfarbe zu bilden. Allein hieran hatten die Kinder mehrere Stunden zu tun, um erst einmal ganz reine Farben herauszubekommen. Allmählich gaben sie von selber, wenn auch noch sehr zaghaft, ihren Farbflächen verschiedene Formen. Nachahmung brauchte ich kaum zu verbieten, da die Kinder sich gegenseitig darin erzogen. Allmählich konnten wir Mischfarben entstehen lassen. Schon hier zeigten sich unverkennbare Unterschiede.
Bald stellte ich bestimmte Aufgaben, z.B.sollte eine Kugel gemalt werden. Das geschah mehrere Stunden nacheinander, mit Aquarell- sowie mit Pastellfarben.
Für die meisten Kinder bot die Kugel- oder Kreisform keine Schwierigkeit (was bei Erwachsenen anders ist) höchstens in der trockenen Farbe, was die Kinder sehr erstaunen ließ.
Sie wurden nicht müde daran, einmal die dunkle, einmal die helle Farbe in den Mittelpunkt zu stellen, um auszuprobieren, was schöner sei (etwa blau innen - gelb außen oder umgekehrt), oder das ganze Blatt in einer Farbe zu halten, wobei die Kugel nur konzentrierter in dem Übrigen zu schweben schien. Am Schlusse dieser und vieler anderer Aufgaben wurden die gemalten Blätter von mir gezeigt, von allen gemeinsam ihre besonderen Eigenschaften, Fehler oder Vorzüge besprochen. Dann besprachen wir miteinander, wo wir die Kreisform kennen:
in der Wellenbewegung des Meeres, ja im großen Kreislauf des Wassers, in der Himmelsglocke, in Sonne und Mond, in der Rundung des menschlichen Hauptes, besonders des kindlichen. Viel zahlreicher fanden wir Teilkreise in mannigfachen Verbindungen, Durchdringungen in den Blüten, in Blattformen usw. Nun ergab sich von selbst, daß wir auch eine „aufgelöste Kreisform“ zu malen versuchten. Ich konnte die Kinder darauf aufmerksam machen, daß sie fast alle von selbst rot und blau, besonders das letzte, für den vollen, oder nachher den geöffneten oder sonst irgendwie veränderten Kreis benutzt hatten. Sie suchten und fanden erstaunt Beziehungen zwischen Farbe und Form, fanden, daß dem Meer, der Himmelsglocke, dem Vergißmeinnicht und Leberblümchen blaue Farbe und runde Form eigen seien, daß die abendlich rote Sonne, die rote Rose und fast alle roten Blumen runde Formen zeigten. Durch solche Besprechungen kamen die Kinder dem Wesen der Farben, auf das ich nicht näher eingehe, da es aus der „Farbenlehre“ bekannt ist, näher und brachten dadurch allmählich immer schönere, manchmal wirklich künstlerische Malereien hervor.
Im allgemeinen standen die Malstunden in nahem Zusammenhang mit dem übrigen Unterricht; die Aufgaben oder der Wunsch der Kinder gingen darauf aus, besonders Eindrückliches in der Farbe darzustellen, z.B.malten sie nach der Besprechung der Nachtschattengewächse ganz verfinsterte Blumen und solche, die sich der Sonne öffnen; oder von der Deutschstunde herkommend: Christophorus, das Kindlein tragend oder Bilder zu dem Morgensternschen Gedicht: Ich bin die Mutter Sonne. Nach einer Stunde, in der die Schärfung f, ff durchgenommen wurde und in der wir auf den Unterschied schaffte - schuf zu sprechen kamen, stellte ich die Aufgabe: „eine Form, die noch nie da war“, zu schaffen, was in Wasser- und Pastellfarbe gemalt wurde. Der Jahreslauf mit seinen Erlebnissen kam zum Ausdruck:
der ernste Totensonntag, das große Freudenlicht, das zu Weihnachten in der Finsterins aufleuchtet, das unheimlich-schöne Nordlicht im Januar, der Kampf zwischen Licht und Finsternis in der Passionszeit.
Vielfach waren die Äußerungen der Individualitäten, die Temperamente durch das Malen. Der beste Lehrmeister beim Erkennen könnten nur Goethes Worte sein:
„An der Farbe läßt sich die Sinnesweise, an dem Schnitt (eines Kleides: also an der Form) die Lebensweise des Menschen erkennen.“ (Wilhelm Meisters Wanderjahre II.Buch, II.Kap.)
An der Wahl heller, reiner Farben zeigte sich ein fröhliches, reines Herz; melancholische Kinder bevorzugten dunkles, schweres Blau oder Violett; die Choleriker malten zackige Formen in den Plus-Farben, während die Phlegmatiker am liebsten in Grün schwelgten. Kinder, die zur Unehrlichkeit neigten oder eine unreine Phantasie hatten, brachten nur unreine Farben zustande. Ihre Unruhe, ihre Trauer und Freude, Flüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit, ihren Intellektualismus, ihre Harmonie oder Disharmonie, ihre oft drückenden Belastungen - alles, alles malten sie.
Und im Laufe der Zeit lernte ich immer besser in diesen Selbstzeugnissen zu lesen und ihnen abzulesen, wie den Kindern zu helfen sei; freilich war dies Letzte viel schwerer und will immer wieder neu gelernt sein.
KINDERPERSÖNLICHKEITEN: DAS MÄDCHEN A.
Einzelne Beispiele mögen das Gesagte näher erläutern.
A.galt als enfant terrible, als sie aus der Parallelklasse zu uns kam, so war meine Aufmerksamkeit sogleich besonders auf sie gerichtet. Das erste, was ich an ihr bemerkte, war eine seltsame Verschlossenheit, manchmal sogar feindselige Kälte gegen alle Menschen, gepaart mit einem Hunger nach Vertrauen. In jeder Weise schien sie vernachlässigt und zurückgesetzt.
Allmählich erfuhr ich, daß sie vom jähzornigen Vater verprügelt, von der Mutter ausgenutzt durch schwere häusliche Arbeit, nicht sauber und ordentlich in Körperpflege und Kleidung gehalten wurde. Es hieß, A.lügt und betrügt, wo sie kann, und sie ist flüchtig und zerfahren.
Ich war tief erschüttert, als ich A.erste Bilder bekam, „eine Form, die noch nie da war“.
In großer Hast nahm sie die Pastellstifte und zeichnete Farben voll entsetzlicher Disharmonie, Formen von solcher Zerrissenheit, solchem Hang zum Zerflattern, daß man förmlich das innerste Wesen des Kindes nach Ruhe, nach Frieden schreien hörte. Das gleiche Thema, jedesmal in ganz anderer Weise, malte sie mehrmals, auch in Aquarell. Da kam all das Düstere, das Gewaltsame, Niedergehaltene, die Unwahrhaftigkeit, Unreinheit noch vielmehr zum Ausdruck.
Obgleich A.die gleichen Farben wie alle anderen hatte, malte sie nichts wie Schmutz. Es war sehr bezeichnend, wie sie ihre Blätter abgab: eilig, scheu, ohne ein Wort, als fürchte sie sich davor und wolle sie los sein (was sie mir später auch bestätigt hat). Ich habe beim Malen A. gegenüber nie ein Wort des Tadels gehabt, weil ich sah, wie das Kind sich selbst quälte über den unreinen Geist, der es in seinen Fesseln hielt, vor allem, weil ich wollte, daß sie sich all das Finstere von der Seele heruntermale, um sich davon zu befreien.
Ich bemerkte an jedem neuen Blatt ein anderes Charakteristisches; die ersten waren die traurigsten, jedes folgende zeigte ein wenig mehr Einheitlichkeit, Beruhigung; in allem aber prägte sich ein verzweifelter Kampf gegen die Unwahrheit aus. Ich ließ A.meistens scheinbar unbeobachtet arbeiten; sie bat auch nie um Hilfe, wie die meisten anderen Kinder. Manchmal bekam sie mit anderen, die es nötig hatten, gemeinsam Konzentrationsaufgaben;
z.B.ließ ich eine von mir vorgezeichnete, schwer entwirrbare Linienführung wiederholt und so exakt wie möglich nachziehen, oder zu einer vorgezeichneten Form genau symmetrisch das Spiegelbild setzen.
In der Schule war und blieb A.scheu. Es war auch, als könne das arme Kind nicht lachen. Da bat es eines Tages: „Darf ich ein Bild malen zu der Geschichte von der Schneelilie, die Sie uns auf dem Ausfluge erzählt haben?“ (Eine Geschichte von Peter Rosegger, in der in schlichter, ergreifender Weise der Sieg eines reinen, liebevollen Kindes über den wilden, egoistischen Vater geschildert wird. Die Tiere spielen darin eine schöne Rolle, was der naturliebenden A.wohl sehr gefallen hatte.)
Ich erlaubte es ihr und war gespannt auf das Ergebnis.
Es war für sie, für mich, ja für die ganze Klasse eine Freudenstunde, als A.da zum ersten Mal in reinem Blau die Berge und den Himmel malte und die wandernde Schneelilie ganz hell darauf andeutete. Ich werde nie die strahlenden Augen des Kindes vergessen.
Der erste Sieg war errungen. Es gab noch viele Rückfälle, im Lügen wie im schmutzigen Malen; ein reines Rot entstand erst später, und zuletzt, und zwar bis heute noch selten das reine Gelb. Aber es ist doch schon da; und ebenso ist mehr Festigkeit, Ruhe und Vertrauen und damit Wahrhaftigkeit eingekehrt. Wie sehr A.sich nach der Reinheit sehnte, trat mir deutlich daran hervor, daß sie ihren Mitschülerinnen oft Farben entwendete, und zwar immer das Gelb, die Farbe des Lichts. Als sie sich so weit durchgekämpft hatte, das Gelb malen zu können, hörte das völlig auf; sie nimmt nichts mehr, was ihr nicht gehört.
Hervorheben möchte ich auch, daß ich hervortretende Fehler, Krisen nicht dadurch zu heilen suchte, daß ich sie dämpfte, ihnen das Gegenteilige entgegenstellte, sondern dadurch, daß ich ihnen die Möglichkeit gab, ihre Kraft auszutoben, gewissermaßen: sie allmählich umzuwandeln.
Cholerikern also, die nur zackige Formen und harte Farben malten, stellte ich etwa die Aufgabe, den Kampf der Farben darzustellen. Nachdem das mehrere Stunden hindurch in immer neuer Gestaltung geschehen war, sehnten sie sich von selbst danach, die Harmonie darzustellen;
und nun erst konnte malerisch etwas Schönes entstehen. In ähnlicher Weise geschah dies bei den anderen Temperamenten und sonstigen besonderen Anlagen. Ich könnte gerade hier von jedem einzelnen Kinde noch viel erzählen; für mich war der Mal- und Zeichenunterricht wie ein Fenster, durch das ich in das geheimnisvolle und weisheitsreiche Schaffen des Lebens hineinschauen durfte. Und hier wie überall war gewiß ich es, die am meisten lernte.
Zugleich mit den Versuchen, durch das Malen die Kinderseelen in gesunder Weise wachsen zu lassen, gingen solche der allgemeinen Klassendisziplin. Auch diese hatten den alleinigen Zweck, das, „was die Natur jedem gegeben“, zu entwickeln. (Wilhelm Meisters Wanderjahre, II.Buch, II. Kap.)
Auch hierbei spielte die Behandlung der Temperamente eine wichtige Rolle. Ich weiß nicht mehr, ob ich von selbst überhaupt einmal daran gedacht habe. Jedenfalls begriff ich die Notwendigkeit, die Bedeutung einer solchen Behandlung aus der Pädagogik der Waldorfschule heraus, und bin durch persönliche Gespräche, durch Vorträge (Tagung des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin, Juni 1926: die Freie Waldorfschule) und Aufsätze ihren Lehrern zu größtem Dank verpflichtet.
MONATLICHER WECHSEL DER SITZORDNUNG IN DER KLASSE
Es galt für mich nach dem oben angeführten Wort Goethes nicht, die Temperamente zu unterdrücken, sondern sie für Unterricht und Klassenleben fruchtbar zu machen, sie zu einer segensvollen Kraft im Wesen der betreffenden Individualität werden zu lassen. Hierfür war die Sitzordnung in der Klasse von großem Wert. Alle vier Wochen stellte ich einen neuen Sitzplan auf, den die Kinder gespannt erwarteten. Aus den Erfahrungen, die ich in diesem Zeitabschnitt gemacht hatte, aus den Beobachtungen über mein Fehlgreifen oder über Veränderungen der Kinder wurde er gemacht. Ich setzte Kinder gleicher Temperamente zueinander: Choleriker zum Choleriker, Phlegmatiker zum Phlegmatiker usw. Die zappelnden, strampelnden, puffenden, in jeder Hinsicht dramatischen Choleriker mußten einander müde werden, aus ihrer eigenen und der nachbarlichen überreichlichen Lebhaftigkeit sich nach mehr Ruhe sehnen. Die Phlegmatiker saßen in einem Häuflein beieinander weiter hinten, wo sie den Lehrer, den Unterricht nicht so stark aggressiv empfinden konnten als die weiter vorn sitzenden Choleriker, denen das grade recht war. Sie begannen sich allmählich an der gegenseitigen Trägheit zu langweilen und nahmen von selbst langsam, aber sehr zuverlässig am Unterricht teil. In entsprechender Weise setzte ich die melancholischen und sanguinischen Kinder. Solche, die Ruhe brauchten, wurden zu ruhigen, zuverlässigen Kameraden gesetzt, solche, die in Bezug auf Abschreiben nicht ganz sicher waren, setzte ich nebeneinander und hatte das Vergnügen, daß sie vor lauter Ärger über einander und in dem Bestreben, es anders, besser zu machen als der andere, einen gelinden Haß auf das Abschreiben bekamen.
A. ließ ich monatelang allein sitzen, damit sie völlig Ruhe hätte, möglichst wenig Angriffspunkte für ihre Feindseligkeit, für ihre Unehrlichkeit fand und sich nur um sich und mich zu kümmern brauchte. Das tat ihr sichtlich wohl.
Die Kinder standen damals mit einem selbstverständlichen, von keinem Zweifel berührten Vertrauen mir gegenüber, so daß sie bei jedem Wechsel mit echt kindlicher Neugier auf die Erlebnisse und Erfahrungen, die der neue Platz bringen würde, gespannt waren. Und - was natürlich auch vorkam - wenn der neue Platz ihren Wünschen nicht entsprach, so überwanden sie ihren Unmut immer bald, indem sie an der bisher verabscheuten Nachbarin allerlei Interessantes, Liebenswertes entdeckten, indem sie meinten, dort viel öfter „heranzukommen“ usw.
Der monatliche Wechsel in der Sitzordnung brachte Beweglichkeit, einen schönen Rhythmus in das Leben der Klasse, vor allem in die unbewußten, intimen Beziehungen der Kinder zueinander. Die Wirkungen der verschiedenen Plätze auf die Kinder waren selbstverständlich nur ganz selten das, was man „auffallend“ nennt; doch könnte ich auch solche Beispiele bringen.
In der Regel war es so, daß ich durch die intimen Vorgänge zu immer sorgfältigerer Beobachtung gezwungen wurde, wenn ich sie miterleben und einigermaßen durchschauen wollte. Mir war das nur dadurch möglich, daß ich den Vorzug hatte, fast das ganze Schulleben meiner Kinder zu teilen und mir Erfahrungen, die ich in einem Fach nicht machen konnte, sich in einem andersartigen ohne weiteres ergaben.
Noch ein anderes möchte ich über die Behandlung der Temperamente sagen, worin ich aber auch nur ganz Anfänger war. Ich bemühte mich, die einzelnen Temperamente im Unterrichte da zu verwenden, wo sie wirklich etwas leisten konnten, z.B.die Choleriker da, wo es sich um dramatische Darstellung handelte, die Sanguiniker da, wo es auf leichtes, schnelles Erfassen gedanklicher Zusammenhänge ankam. Die Phlegmatiker konnten den Cholerikern und Sanguinikern, die im sprachlichen Austausch die andern leicht zurückdrängten‚ zeigen, daß sie ihnen in gründlicher, geduldiger Arbeit überlegen waren, etwa im Anfertigen von Zeichnungen, im exakten Rechnen usw. Und die Melancholiker fanden sich überrascht, wenn so mancher Aufsatz von ihnen vorgelesen wurde, wenn sie bei der Rezitation besonders schöner Gedichte immer wieder herangezogen wurden.
So lernten die zur Überhebung leicht geneigten Choleriker und Sanguiniker die Leistungen der andern anerkennen; diese wurden angeregt, ihre Fähigkeiten mehr auszuüben oder wurden beglückt durch die Anerkennung, die Möglichkeit des Selbstvertrauens. Das stellte die Fähigkeiten ins rechte Licht, indem niemand und nichts für überflüssig, unfähig, dumm gelten konnte, sondern jeder einen notwendigen Ton in der Klassenharmonie zu tönen hatte und angehalten wurde, jeden andern Ton zu achten, um die Harmonie nicht zu stören.
Die tägliche „Stimmung“ der Klasse, der Grad meiner „inneren Einstimmung mit ihr“ war mir der beste Messer dafür, wie es mit dieser Harmonie stand. Trat ein Ton zu scharf oder gar unrein hervor, so mußte er gedämpft oder eingestimmt werden; wollte ein anderer verschwimmen oder gar verschwinden, so mußte er zur Deutlichkeit erhoben und festgehalten werden. Bei manchen Kindern erhielt sich die „Einstimmung“ von selbst. Um sie brauchte ich mich kaum zu kümmern, empfand sie vielmehr als meine lieben Helfer. Umsomehr mußte und konnte ich mich den Sorgenkindern widmen. Ich habe schon erzählt, wie A. ihren unreinen Ton fast ganz vergessen und gelernt hat, meistens einen reinen, leisen Ton mitzutönen. Ein ganz andersartiges Beispiel möchte ich hier noch erzählen, an dem ich zu meinem Erstaunen erfuhr, wie tiefgreifende Änderungen rein disziplinarische Maßnahmen in einem innerlich gestörten Organismus hervorrufen können.
DAS MÄDCHEN B.
B. war ein äußerst bewegliches, schlankes, sehr blasses Kind, das mich eigentümlich fragend ansah‚ so, als wenn es mich erst prüfen wollte, ehe es mir vertraute. B. gehörte zu denen mit dreijähriger Grundschule. Sie zuckte oft nervös zusammen, zeigte ein sehr unregelmäßiges, hastiges Atmen; die hohe Stirn unter spärlichen blonden Haaren zeigte deutlich große Anstrengung beim Nachdenken, besonders beim Rechnen; dabei war B. ein „begabtes“ Kind. Sobald sie nur glaubte, eine Antwort nicht ganz richtig gegeben zu haben, kämpfte sie mit den Tränen, weinte oft auch bitterlich, reagierte kaum auf freundlichen Zuspruch, schien sich dabei sogar sehr zu schämen. Ihre Sätze bestanden aus einzelnen sehr leise und zusammenhanglos aneinandergereihten Worten, wie ihre Schrift aus lauter einzelnen, sehr sorgfältig gemalten Buchstaben ohne Bindung bestand.
Ich erfuhr dann, daß sie sehr nervöse Eltern habe, daß der ehrgeizige Vater sie geradezu dressierte und quälte mit täglichem „Pauken“. Sie hatte auch in einem Vierteljahr in die dritte Schule sich einzuleben. Angstgefühle durchzogen das ganze Erleben des Kindes, und zwar so stark, daß schon die Atmungsorganisation und Blutzirkulation angegriffen waren. Das zeigte sich besonders deutlich, als B. einmal nach einem Märchen die Angst malte: ein unheimlich sich aufreckendes Gebilde, wie eine rote Blutwelle, die alles rundum zu überfluten, zu ersticken schien. So wahr, so angsterregend konnte das nur jemand machen, der die Angst selbst in sich spürte.
Ich war zuerst völlig ratlos, was ich dabei machen sollte. Ich merkte wohl, das Kind sehnte sich in erster Linie nach Ruhe; so setzte ich es allein auf eine Bank, in seine Nähe die ruhigsten aus der Klasse. Ich nahm es zunächst nur bei solchen Fragen heran, die es unter allen Umständen beantworten konnte, damit sein Selbstvertrauen wachsen könne. Ich lobte es aber nicht, sprach überhaupt so wenig wie möglich mit ihm, weil ich merkte, daß es sich dabei vor den andern geniere und ängste. Und so mußte ich versuchen, ohne Worte mit dem Kinde zu verkehren. Ich bin nicht von selbst auf diesen Gedanken gekommen, sondern ich las damals einen Aufsatz eines Waldorflehrers über „Disziplin“ (Paul Baumann in „Die Drei“, II.Jahrg.April 1922) in den einzelnen Entwickelungsstufen.
Da stand über das mich besonders interessierende Alter der Satz: „Formkraft, musikalische Spannung will es überall spüren, das verhilft ihm (dem Kinde) zur Disziplin.“
Dieser Satz, der dann noch ausführlich behandelt wurde, ließ mich nicht los, mein anfängliches Fragen und Staunen verwandelte sich aber in völlige Bejahung, je mehr ich mich hinein vertiefte. Erst recht, als ich seine Wahrheit bei meinem Sorgenkinde beglückend spüren konnte. Jeden Abend vor dem Einschlafen stellte ich mir das Kind recht deutlich vor, um mich so innig wie möglich mit ihm zu verbinden, besonders aber versuchte ich einige Zeit hindurch während des Unterrichts in dauernder „musikalischer Spannung“ mit dem Kinde zu sein, d.h.auf jede Regung des Kindes innerlich zu reagieren, um so eine seelische Verbindung zwischen ihm und mir zu schaffen; es sollte nur Liebe und abwartende Geduld spüren und die Möglichkeit zu ruhigem Vertrauen finden, damit es gesunden könne bis ins Physische hinein.
Das, was ich mit B. erleben durfte, gehört zu dem Beglückendsten des ganzen Jahres.
Ein inniges, keusches Vertrauen stellte sich allmählich ein, der krankhafte Ehrgeiz wandelte sich in große Gewissenhaftigkeit um; Schreib- und Sprechweise wurden zusammenhängender, ruhiger, es zeigte sich Freude am eigenen Können. Harmlosigkeit, ja lebhafte Fröhlichkeit den Mitschülerinnen gegenüber. Ja bis ins Physische hinein geht die Gesundung allmählich:
Glieder und Bäckchen haben sich gerundet und zeigen eine gesunde Farbe, auch der Atem ist ruhiger geworden.
Wie sehr meine Kinder die „Formkraft“, die „musikalische Spannung“ brauchten, wie sie daran physisch und moralisch, ja auch geistig gesundeten oder erkrankten, wenn sie irgendwo fehlte, das habe ich bei fast allen mehr oder weniger erlebt. Es gehört hierher noch ein Abschnitt über die Gedächtniskräfte und ihre Beziehungenzum physischen und seelischen Wachstum.
Bei B. und anderen hatte ich die Beobachtung gemacht, daß bei zu starker Anstrengung des Intellekts, der Gedächtniskräfte, Trauer- und Angstzustände, Blässe, eine allgemeine Herabminderung der aufbauenden, der Lebenskräfte die Gesundheit bedrohten.
Die nach Betätigung drängenden, mit starken Gedächtniskräften Begabten, meistens Choleriker, zeigten das Entgegengesetzte. Hatten sie nicht genug Gelegenheit, ihr Gedächtnis anzustrengen, so nahmen die leidenschaftlichen Freuden- oder Zornesausbrüche zu; die überstarken, zu wenig ausgenutzten Lebenskräfte drohten die Seele zu ersticken; eine Röte nach der andern jagte über Gesicht und Hals, die Sprache wurde noch hastiger, polternder als sonst; das ganze Wesen zeigte Unbeherrschtheit.
Ich gab den erstgenannten Kindern Gelegenheit zu mehr phantasievoller Betätigung, zog sie z.B. zu Erzählungen gemütvollen Inhalts heran; manche fühlten sich auch wohler, wenn sie bei Entwickelung von Gedankengängen helfen durften.
Den kleinen Gedächtnisfanatikern erlaubte ich, freiwillig Gedichte zu lernen, um ihnen zu helfen. Das taten die eifrigsten unter ihnen so reichlich, daß es gar nicht möglich war, alle gelernten Gedichte in der Klasse vortragen zu lassen; da nahmen wir manchen Ausflug zu Hilfe. Ja, die Betreffenden halfen sich selbst dadurch, daß sie die täglichen Aufgaben - etwa zu Deutsch, Biologie - auswendig lernten, sogar noch vieles aus Büchern dazu lernten, obgleich sie wußten, daß ich mir nichts auswendig Gelerntes hersagen, sondern immer nur erzählen ließ. Sie taten also doppelte Arbeit. Ich habe manchesmal diese doppelte Arbeit zu prüfen Gelegenheit gehabt.
Erst sehr spät begriff ich, wie das innerste geistige Wesen der Kinder auf diese weisheitsvolle Art ihre gesunde Entwickelung lenkte, wo die Dumpfheit und allzu grobe Beobachtung des Lehrers sich nicht in rechter Weise dazu bequemen wollte.
Es ist mir an diesem Erlebnis besonders deutlich geworden, wie wirklich jede Erziehungsarbeit aus der Veranlagung und der Entwickelungsstufe des Kindes hervorgehen muß; und daß sie desto besser ist, je weniger sie vorgefaßten Zielen oder eigener Gelehrtheit folgt.
Bei diesem Abschnitt ist es so gewesen, daß die Anregung aus Dr. Steiners Lehrerkurs (S. 41-42) kam, und daß ich dann voller Freude ihre Bestätigung bei Goethe fand, in Stellen, die mir sonst vielleicht nicht so wichtig, so vielsagend geworden wären.-
„Wollte Gott, wir wären alle nichts weiter als gute Handlanger.
Eben, weil wir mehr sein wollen und überall einen großen Apparat von Philosophie und Hypothesen mit uns herumführen, verderben wir es.“ (Gespräch mit Eckermann (18.5.24, Buch III). In Wilhelm Meisters Lehrjahren:
„Die Natur bildet uns auf ihre liebliche Weise zu allem, was wir sein sollen . . . wehe jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung zerstört und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege zu beglücken.“ (8.Buch, I.Kap.)
Es wäre noch anzuführen, was Natalie über die Erziehungskunst des Abbe sagt (8. Buch III. Kap.) und endlich aus den Maximen und Reflexionen:
„Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.“ (S.42.)
Ich hoffe, es ist aus dem Dargestellten einigermaßen ersichtlich, wie ich versuchte, Unterricht und Erziehung dem Leben gemäß zu gestalten und dadurch allein mit innerer Wahrhaftigkeit zu erfüllen. Wenn dabei Unterricht und Erziehung in ein künstlerisches Element getaucht wurden, so geschah es nicht, weil ich mir aus irgend welchen Erwägungen das Ziel gesetzt hatte:
ich will künstlerisch unterrichten, — wozu ich gänzlich unfähig gewesen wäre. Sondern wohl oder übel mußte ich mein Denken, Sprechen, Handeln, wenn ich Zugang zu den Kinderseelen haben wollte, in die ihnen in diesem Alter gemäße Form kleiden, eben die musikalisch-künstlerische.
Und so mußte ich versuchen, von allen irgendwie vorgefaßten Meinungen und Prinzipien mich zu lösen, mich innerlich beweglicher und bildsamer zu machen, einen Resonanzboden gewissermaßen zu bauen, der geeignet sei, auf alle lauten und leisen, reinen und falschen Töne aus Kinderseelen zu antworten. Daß mir solches erst aus dem Unterricht, dem Leben mit den Kindern zur Erkenntnis wurde, ist in den obigen Beispielen angedeutet.
EIN BESONDERES AM SCHLUSS: DIE DREIFACHE EHRFURCHT
Auf ein Besonderes möchte ich zum Schluß eingehen.
Es gab nur eins, das ich mir von vornherein vorgenommen hatte, in den Kinderherzen zu pflanzen und zu pflegen. Was als höchstes Ziel aller Unterrichts- und Erziehungsarbeit vor mir stand, was, wie das Blut, den ganzen Organismus durchströmt, pulsieren sollte in dem ganzen Erleben der Klasse und zur Kraft für das spätere Leben werden sollte, das war die dreifache Ehrfurcht, über die Wilhelm Meister in der Pädagogischen Provinz belehrt wird:
„Eines bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei . . .: die Ehrfurcht . . . wir überliefern eine dreifache Ehrfurcht, die, wenn sie zusammenfließt, erst ihre höchste Kraft und Wirkung erreicht.
Das erste ist Ehrfurcht vor dem, was über uns ist. . ., das zweite, Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist. . ., das dritte, Ehrfurcht vor dem, was um uns ist. . .
Es ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden muß und der sich nur bei besonders Begünstigten aus sich selbst entwickelt . . . Hier liegt die Würde, hier das Geschäft aller echten Religionen.“
Ehrfurcht vor dem Laut, dem Wort, dem wunderbaren Gefüge der Sprache; vor den lebenschaffenden, -erhaltenden und -vernichtenden Kräften, Sonne für alles Irdische, für Stein, für Pflanze, Mensch und Tier; vor dem Hereinragen der Vergangenheit in die Gegenwart - sie war die erste vor dem, was über uns ist. Das Kennenlernen der Kinder untereinander, der verschiedenen Fähigkeiten und Wesensarten durch die wechselnde Sitzordnung, durch die Heranziehung bestimmter Schülerinnen zu besonders gearteten Aufgaben, durch den Malunterricht;
das selbstverständliche Staunen über das Können der Erwachsenen, hier besonders des Lehrers, das Empfinden der wartenden Liebe der Lehrer — sie alle waren geeignet, die Ehrfurcht vor dem, was um uns ist, zu erwecken. Spuren der „christlichen“ Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, konnten fast alle Ausflüge, fast aller naturkundlicher Unterricht, das Miterleben von Welken, Sterben und Auferstehen im Jahresrhythmus in den kindlichen Seelen hinterlassen.
Gerade in dieser Hinsicht empfand ich am allernotwendigsten meine eigene Erziehung zur Ehrfurcht als Vorbedingung der kindlichen. Und dieses Empfinden ist im Laufe der Zeit zur immer bewußter gemachten Erfahrung geworden, die Erfahrungen hierin zum Prüfstein meines Denkens und Tuns.
Ich glaubte, das Notwendige allein dadurch erreichen zu können, daß ich mir wieder und wieder bei der Vorbereitung deutlich machte, das wunderbare Ineinanderwirken göttlicher Kräfte in den verschiedenen Naturreichen, das stete Opferdasein der Unteren den Oberen gegenüber.
Zwei Verse muß ich da anführen, die mir dabei besonders wichtig wurden.
Aus dem Faust:
Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen und sich die goldnen Eimer reichen! Mit segenduftenden Schwingen vom Himmel durch die Erde dringen, Harmonisch all das All durchdringen. (Vers 447—458.)
Und der Schluß aus Morgensterns Gedicht „Die Fußwaschung“: Es dankt aus aller Gottheit Ein- und aller Gottheit Vielfalt wieder: In Dank verschlingt sich alles Sein.
Ich suchte immer tiefer einzudringen in die großen Zusammenhänge der Geschichte und Erziehung der Menschheit. Vor allem aber suchte ich immer wieder beim Beobachten der Kinder oder beim erinnernden Vergegenwärtigen der einzelnen Individualitäten, mir ihnen gegenüber die rechte Stellung zu geben, indem ich mir bewußt zu machen versuchte, was Goethe ausdrückt mit den Worten:
„Jede Entelechie ist ein Stück Ewigkeit.“ (Gespräche mit Eckermann. 11.3.1828), d. h. ich stellte mir vor die Seele, wie in jedem dieser Kinder ein ewiges Geistwesen aus der göttlichen Welt in das Erdendasein herabgestiegen sei, wie es in noch viel innigerer Beziehung mit der göttlichen Welt verbunden sei als ich, der schon länger auf Erden weilende Erwachsene; wie vielleicht in einigen dieser Wesen bedeutende Geister vor mir standen; wie diese Kinder auf dem Wege in das Menschwerden hinein vielen Schmerzen, Versuchungen, Gefahren ausgesetzt waren, und wie ihr innerstes Wesen sich nach einem Führer auf diesem Wege sehnte.
Das Bewußtsein, in jedem Kinde „ein Stück Ewigkeit“ vor mir zu haben, jedesmal in besonderer seelischer Färbung und physischer Gestaltung, war wohl der tiefste, befeuerndste Anreger zur Verantwortlichkeit. Ja, die Gewißheit gab mir auch den freudigen Mut, die Kraft zu meinem Beruf. Wie hätte ich allein es sonst wohl wagen dürfen, so vielen Schülern als Lehrer und Erzieher gegenüber zu treten?
Wie hätte ich sonst glauben können, ihrem Wesen nahe kommen zu können?
Aber das Bewußtsein, daß die Wesenheiten der Kinder und meine eigene in der „Ewigkeit“ ihren Urgrund hatten, die Erfahrung, daß die göttlichen Schöpferkräfte weiter wirkten und verwandelten an den aus ihren Händen hervorgegangenen Menschenwesen, sie gaben mir die Freudigkeit zu meiner Arbeit.
Ich, ein Stück Ewigkeit wie meine Kinder, sollte ich nicht, den göttlichen Kräften vertrauend, hoffen, das Rechte zu tun; hoffen, daß Unterricht und Erziehung wahrhaft lebendig würden, wenn ich mehr und mehr bemüht war, alles nur abzulesen aus dem in den Kindern sich darlebenden Stück Ewigkeit?
Nur diese Gewißheit ist für mich der Beweggrund, die Kraft zu allen Versuchen lebendigkünstlerischer Gestaltung in meinem Beruf geworden; sie ist’s, die in Wahrheit die Möglichkeit, das Element der Erziehung zur Ehrfurcht, oder, wie ich hier sagen möchte, zur religiösen Erziehung bildet.
Und diese Erkenntnis ist darum Gewißheit, weil sie nicht im Denken allein, sondern in vielfacher Weise im Tun gewonnen ist.
„Denken und Tun, Tun und Denken. . . beides muß wie Aus- und Einatmen sich im Leben ewig fort hin- und wieder herbewegen; wie Frage und Antwort sollte eins ohne das andere nicht stattfinden.“ (Jarus zu Wilhelm Meister; in den Wanderjahren II.Buch 10.Kap.)
Schließen möchte ich mit einem Worte Pestalozzis:
„Es gibt und kann nicht zwei gute Unterrichtsmethoden geben; es gibt nur eine gute, und das ist diejenige, die vollkommen auf den ewigen Gesetzen der Natur beruht. Ich weiß wohl, daß diese einzige wahrhaft gute Methode nicht in meiner oder in irgend eines Menschen Hand ist; aber ich suche mich mit der Kraft, die in meiner Hand liegt, dieser einzigen, wahrhaft guten Methode zu nähern.“"