WALTER JOHANNES STEIN. EINE BIOGRAFIE

Walter Johannes Stein - Eine Biografie

Von Johannes Tautz

ISBN 3723504841 

Inhalt

Prolog / "Wie selbstverständlich in die Anthroposophie hineingewachsen" / Kindheit in Wien / Im Schottengymnasium / Freundschaft mit Eugen Kolisko / Die Forderung des Schicksals / Erkenntniswissenschaftliche Forschung im Weltkrieg.

Bewusstseinswende

Ein historisches Entscheidungsjahr / Kämpfer für die soziale Dreigliederung / "Ein Festakt der Weltordnung" / Der Waldorflehrer / Mitte des Lebens / Das Gralsburg / Der Goetheanum-Redner

Taten und Entwürfe

Aufgabenfeld Anthroposophische Gesellschaft / Nach Rudolf Steiner Tod / Eine Jugendtagung / Entdeckungsreisen / Die Zusammenarbeit mit D.N.Dunlop / König Leopolds Plan / "Rudolf Steiner als Tröster" 

Anhang

Autobiografische Skizzen / Ergänzende Hinweise zu einzelnen Kapiteln/ Anmerkungen / Verzeichnis der Abbildungen

 

DIE FORDERUNG DES SCHICKSALS

SEITE 35

«Die Jugend träumt die Wahrheit, welche die Alten erkennen sollten», heißt es in Steffens Lebensgeschichte eines jungen Menschen. Das Traumgewebe verdichtet sich, wenn die Adoleszenz zu Ende geht. Dann bricht eine Seelendramatik auf: 

Die Forderungen des selbstgewählten Schicksals drängen an die Schwelle des Bewusstseins, und das Gefühl, vor einer Lebensentscheidung zu stehen, ergreift den zur Selbständigkeit Erwachenden. So erlebte es Stein, als er die Geheimwissenschaft von Rudolf Steiner entdeckte.

Diese Lebensstimmung hatte sich seit den letzten Schuljahren vorbereitet. 

Mit einem beweglichen Denken und der Fähigkeit zur Abstraktion begabt, suchte er nach Erkenntnis der Naturzusammenhänge. Das Maturitätszeugnis des «K. K. Obergymnasiums zu den Schotten in Wien» vom 11. Juli 1911 bescheinigte ihm sehr gute und gute Leistungen in Physik, Mathematik, Geographie, Geschichte und Philosophischer Propädeutik. Hier lagen seine schulischen Fähigkeiten. Ein aristotelischer Geist lebte in ihm. Wie stark sich sein Denken damals schon in den Bahnen des Aristoteles bewegte, wurde ihm bewußt, als er auf die Begegnung mit Rudolf Steiner zurückschaute. Bis zu den Grundlagen der mechanischen Physik wollte er vordringen, das Wesen von Zeit, Raum, Substanz erfassen, die Struktur und Entwicklung der Natur in ihrer Ganzheit begreifen. Diese Fragen der Naturerkenntnis und das Rätsel der menschlichen Existenz, das ihn seit dem Tod des Vaters begleitete, führten den Einundzwanzigjährigen zur Anthroposophie.

Die Zeit zwischen dem Abschluss der Schule und dem Beginn des freiwillig einjährigen Militärdienstes nutzte er zu einer «Bildungsreise» — wie der Vater immer geraten hatte. Während der Mitabiturient Eugen Kolisko nach Athen und Dalmatien aufbrach, zog es Stein nach Deutschland. Über Salzburg, München, Stuttgart und Mainz ging die Reise bis nach Köln und wieder nach Stuttgart zurück, wo er sich spontan zur Heimfahrt entschloß. Der Abschied von der Mutter, die Lösung aus den gewohnten Verhältnissen, das Gefühl, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, sie machten die Seele empfänglich für den Ansturm der neuen Eindrücke. Aus München schrieb er am 27. August 1911 an Kolisko:


Freund Eugen Kolisko um 1914

«Lieber Eugen,

ganz leicht hat sich der Vorhang gelüftet, der die weite Halle der Kunst abschloß, aber doch weit genug, daß ein neugierig Auge gerade so viel erspähen konnte, um eine Anregung mit fortzunehmen. So war der Sommer wieder einmal bedeutungsvoll für mich, denn zum ersten— mal trat mir die bildende Kunst entgegen. Und sonderbar — im historischen Gewande. Alles, was ich bis jetzt nur lernte, das habe ich nun gesehen, und meine hungrige Phantasie hat nun reichlich Nahrung. Bedeutungsvoll war der Sommer auch sonst, aber davon will und darf ich noch nicht reden.

Kann sein, daß ich aus den Werken, die zu sehen ich Gelegenheit hatte, mehr herauslas, als herauszulesen war, so wie ich es ja mit den Menschen immer tat — mag sein. Aber ich will lieber ein reicheres Leben führen als ein allzu armes. Nun ist mir das exakte Denken schon — allerdings nur auf einem Gebiet — zum Mittel geworden, und das ist ein guter Anfang. Daß ich Philosoph und nicht Mathematiker bin, wissen wir beide ja lang genug, und das soll mich nicht hindern, doch Mathematik zu studieren. Denn der Anfang liegt hier — wenn auch das Ende, das heißt das Ziel, im Leben, im rosigen, sonnigen, arbeitsfrohen Leben liegt. Per abstracte ad vitam. Freilich, es kann einem passieren, daß man at vitam erst vor seinem Tode kommt. Insbesondere in Österreich. Doch steht nirgends geschrieben, daß Österreich die Welt ist. Ich bin etwas vielseitig geworden, und das ist gut. Malerei, Bildhauerei, Keramik, Anthropologie, Völkerkunde, Baukunst, Theater und viel anderes tanzt nun seinen tollen Reigen in meinem Schädel, und es ist gut, daß man auch etwas erlebt hat und persönlich in Anspruch genommen ist, sonst wird man zum lebendigen Museum. Ich habe allein fünfhundert alte Kachelöfen gesehen und kann nun auch in Zimmern ohne Ofen wohnen. Königsschlössern weiche ich in weitem Bogen aus, und an Rathäusern sehe ich starr vorbei. Trotzdem habe ich heute drei Stunden lang griechische Vasen angeschaut. Daß es erst Münchens bedurfte, um mich in ‚Glaube und Heimat‘ zu führen, ist vielleicht beschämend — aber — was macht das? Es scheint fast, daß wir einander um so näher kommen, je weiter wir uns voneinander entfernen. Die Welt ist rund — vielleicht treffen wir uns irgendwo. Herzlichst grüßt Dich, Dein Walter»

Es war ihm, als ob zum erstenmal ein Wirklichkeitsverlangen gestillt würde, das die Schule nicht befriedigen konnte.

Zweimal führte ihn der Weg nach Stuttgart. Nichtsahnend betrat er den Ort seiner künftigen Tätigkeit: das auf der Uhlandshöhe gelegene Restaurant, das Emil Molt nach dem Weltkrieg zur ersten Waldorfschule umbauen ließ. Wie ein Vorblick auf die Szene der entscheidenden Stuttgarter Lebensphase mutet diese Begebenheit an.

Stuttgart

Stein hat den schicksalhaften Moment in seinem Lebensbericht festgehalten:

«Ich erinnere mich, wie ich den Hügel zur Uhlandshöhe hinaufstieg, von der aus sich die wunderbare Gartenstadt vor dem Blick ausbreitet und das ganze Tal und die steilen Terrassen auf den benachbarten Hügeln ausfüllt, die mit karmesinroten Rosen und Kletterrosen bedeckt waren. Ein König, der Rosen liebte und mit arabischen Schriftzeichen zu unterzeichnen pflegte, hatte diese Rosen einst von den Wällen von Granada nach Stuttgart verpflanzen lassen. Für mich war es wie eine Stadt aus ‚Tausendundeiner Nacht‘‚ und ich durchwanderte sie wie in einem Traum. 

Stuttgart hat auch ein kleines Schloß, und die umgebenden Gärten sind in arabischem Stil angelegt. Das saubere und ordentliche Land mit den rotgeziegelten Landhäusern links und rechts entlang der Bahnlinie, wo sogar Fabrikarbeiter ihre kleinen Gärten oder Grundstücke haben, die sie in ihrer Freizeit bearbeiten, kam mir, als es in das Rot der Rosen getaucht vor mir lag, wie ein Land der Verheißung vor. Ich ging die Straße entlang, die einst Napoleons Artillerie erstiegen hatte und die bis auf den heutigen Tag Kanonenweg heißt [heute Haußmannstraße]. Hier war die ganze Armee auf ihrem langen Marsch, der erst in Wien gestoppt wurde, vorbeigekommen. Ich erreichte das Haus mit der Nummer 44, ein Gebäude, das damals als Restaurant Uhlandshöhe bekannt war. Es war eine Art Café, zu dem eine Treppe hinaufführte. Als ich auf diesen Stufen stand, wurde ich von einem unsagbaren Gefühl ergriffen, aber damals wußte ich nicht, worin es bestand. Doch plötzlich wurde mir klar, daß meine Reise zu Ende war. Ich mußte umkehren. So ging ich zur Bahnstation hinunter und nahm den nächsten Zug nach Wien.“

Später nannte er Stuttgart gelegentlich auch Neu-Granada, weil hier Geisteskämpfe ausgetragen wurden, wie sie einst gegen die arabischen Denker und Aristoteles-Interpreten die christlichen Scholastiker geführt hatten; und Stein, der sich als Vertreter der christlichen Aristoteliker verstand, hat sich an solchen Kämpfen leidenschaftlich beteiligt.

Soldatenlaufbahn

Dann begann das Jahr der militärischen Ausbildung. Stein wurde zur Artillerie eingezogen. Er war gerne Soldat und qualifizierte sich als Reserveoffizier. Ein kämpferischer, geradezu draufgängerischer Zug war ihm wesenseigen.

Student an der Wiener Universität

Im Oktober 1912 ließ er sich an der Wiener Universität für Mathematik, Physik und Philosophie einschreiben. Er belegte Vorlesungen über Ethik und die Philosophie Kants, über Psychologie und die Entwicklung des modernen Erkenntnisproblems, über reine Mathematik und Experimentalphysik: ein Pensum von zweiunddreißig Wochenstunden, das der eifrige Studienanfänger übernommen hatte. Unter seinen Hochschullehrern war auch der damals bekannte Philosoph Friedrich Jodl, der im Anschluß an John Stuart Mill, Auguste Comte und Ludwig Feuerbach die positivistische, geistleugnende Wissensrichtung des 19.Jahrhunderts vertrat.

Eine methodische Schulung im Bereich des Mathematisch-Physikalischen strebte er an. Dabei begünstigte ihn sein in der Oberstufe erworbenes Wissen und ein umfassendes Gedächtnis, dessen Inhalte er jederzeit abrufen konnte.

Begegnung mit der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners

In diesem Moment eines Erkenntnisaufbruches trat das Ereignis ein, das sein Leben von Grund auf veränderte. Stein hat den Vorgang wiederholte Male — verkürzt und ausführlich — geschildert. Sein Blick fällt auf das Buch ‚Die Geheimwissenschaft im Umriss.' Er findet den umfangreichen Band auf dem Schreibtisch seiner Mutter. Dieser Umriß der anthroposophischen Geisteswissenschaft, den Rudolf Steiner von 1906 bis 1908 ausgearbeitet hat, war 1910 im Verlag Altmann/ Leipzig erschienen. Das Zentralkapitel «Die Welt-Entwickelung und der Mensch» stellt die geisteswissenschaftliche Kosmogonie dar, die eine unerschöpfliche Fülle von Tatsachen und Entwicklungsgesetzen enthält. Es ist die Forscherleistung Rudolf Steiners, daß er durch exakte hellseherische Beobachtung bis zu jenem Stadium der Erdenentwicklung vordringen konnte, in dem ein in sich gegliederter, in wechselnden Zuständen bestehender Wärme-Kosmos — Saturn genannt — vorhanden war.

Seitdem Stein die Geheimwissenschaft aufgeschlagen hatte, ließ ihn das forschende Fragen nach ihrer Methode und ihren Resultaten nicht mehr los. An dem Wärmeproblem, an dem ersten Kapitel der geisteswissenschaftlichen Kosmogonie - der Saturnentwicklung - entzündete sich die Auseinandersetzung. Die ersten Sätze, die er las, waren für den Studenten der Physik eine Herausforderung. Wärme kann nicht als Stoff, sondern nur als eine Form der Energie betrachtet werden — das hatte er gelernt. Hier aber wurde behauptet, daß Wärme eine Qualität, ein Element impulsierender Tätigkeit sei. «Dieser Mann muß die ganze Entwicklung der modernen Physik verschlafen haben», folgerte Stein. Den Einwand hatte Rudolf Steiner jedoch in den «Vorbemerkungen» vorweggenommen und erklärt, daß er aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Studien zeigen könne, «wie die Darstellung dieses Buches in Wirklichkeit doch mit allen Fortschritten gegenwärtiger Wissenschaft übereinstimmt».

Erstbegegnungen sind Momente gesteigerter Wahrnehmungsmöglichkeit. Stein empfand sofort: «Da spricht eine Weltanschauung, die entweder wahr ist, dann muß ich sie mir zu eigen machen, oder sie ist falsch, dann muß ich sie aufs äußerste bekämpfen. Das aber fühlte ich sofort, daß ich vor einer Lebensentscheidung stand.»

Die Forderung des Schicksals trat deutlich vor das innere Auge: Wenn die Wahrheitsprüfung positiv ausfiel, dann hatte er den Entwicklungsweg zu gehen, um in den anthroposophischen Ideenkosmos einzudringen. Jede Zeile, die Rudolf Steiner geschrieben, jedes Wort, das er gesprochen hatte, wollte er kennenlernen. Alle erreichbaren Vortragsnachschriften und Bücher begann er mit der ihm eigenen Intensität durchzuarbeiten. Er stellte das Studium, mit dem er gerade begonnen hatte, zurück und saß täglich bis zu zehn Stunden über den Vortragszyklen und Büchern Rudolf Steiners.

Schon beim ersten Lesen in der Geheimwissenschaft war ihm das Ungewöhnliche der Darstellungsweise aufgefallen. Nach Art eines mathematischen Lehrbuches werden die übersinnlichen Bewußtseinsinhalte entwickelt. Dadurch erreicht der Verfasser, daß die Lektüre «selbst schon der Anfang der Geistesschulung ist. Denn die ruhige, besonnene Gedankenanstrengung, die dieses Lesen notwendig macht, verstärkt die Seelenkräfte und macht sie dadurch fähig, der geistigen Welt nahezukommen.» 

So charakterisiert Rudolf Steiner selbst bei der letzten Durchsicht der Geheimwissenschaft im Januar 1925 die Wirkung seiner gedanklichen und sprachlichen Darstellungsmittel. In der Tat, die Ausbildung dieser Stilelemente, die den aufmerksamen Leser vom denkenden zum schauenden Bewusstsein hinleiten (falls er es bemerkt), ist ein noch wenig untersuchtes Ereignis in der deutschen Sprachentwicklung.

Systematisches Studium der Anthroposophie

Stein ging bei seinem Studium der Anthroposophie systematisch vor‚ Er beschreibt, wie sein Urteil über die geisteswissenschaftlichen Aussagen drei Stadien durchlief und die fortgesetzte Prüfung zur ersten Gesprächsbegegnung mit Rudolf Steiner führte:

«Im Laufe meiner weiteren Lektüre machte mein Urteil über Rudolf Steiner drei verschiedene Stadien durch. Das erste trat auf, als ich eine gewisse Anzahl von Büchern und Vortragszyklen gelesen hatte. „Alles, was er sagt“, sagte ich mir, „ist in sich selbst begründet, doch von der Mathematik her ist mir sehr wohl klar, daß ein System von Gedanken keine Wirklichkeit zu repräsentieren braucht, nur weil es logisch und widerspruchsfrei ist.“

„Auf der zweiten Stufe meiner prüfenden Untersuchung begann ich Rudolf Steiners Lehre mit anderen Philosophien, Religionen und mystischen Systemen zu vergleichen. Ich fand, daß sein Werk den Schlüssel zu allen anderen enthielt und daß alle anderen Systeme sich zu seinem wie Teile zum Ganzen verhielten. Doch es kann sein“‚ sagte ich mir, „daß diese spirituellen Weltanschauungen keinerlei Wirklichkeit repräsentieren. Ich muß jedoch zugeben, daß das System, das uns Rudolf Steiner bietet, nicht nur auf sich selbst beruhend ist, es enthält auch den Schlüssel zu all den anderen Systemen.

Auf der dritten Stufe begann ich die Beziehung zu studieren, die zwischen Rudolf Steiners Lehre und der Naturwissenschaft, das heißt allen mir zugänglichen Wissenschaftszweigen, besteht. Wo er von der orthodoxen Lehre abwich, tat er das meiner Ansicht nach mit guten Gründen. In der Tat war er weiter fortgeschritten als die offizielle Wissenschaft, und sein System enthielt wirklich eine Realität, nämlich die Realität der Natur.

Die Persönlichkeit Rudolf Steiners 

Als ich so weit gekommen war, wurde ein Vortrag angekündigt, den Rudolf Steiner in Wien halten sollte, und ich beschloß hinzugehen." Es handelt sich um die Vorträge «Die übersinnlichen Welten und das Wesen der Menschenseele» am 19.Januar 1913, und «Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft in ihrem Verhältnis zu den Lebensrätseln am 20.Januar 1913, von denen keine Nachschrift vorliegt.

«Rudolf Steiner hielt einen wundervollen Vortrag über die Trichotomie oder Dreigliederung des Menschen. Er legte dar, wie Denken, Fühlen und Wollen durch eine innere Seelenschulung zu geistigen Erkenntniskräften entwickelt werden können. Das Denken erhebt sich dann von abstrakt-schattenhaften Element zu einem lebendigen Bilddenken, zur Imagination, zur geistigen Schau. Aus dem Gefühl wächst, wenn es selbstlos gemacht wird, die Fähigkeit hervor, göttliche Inspiration zu empfangen. 

Wenn schließlich der Wille auf die Umwandlung unseres eigenen Charakters und Wesens gerichtet wird, entsteht das, was man wahrhaftig als Intuition bezeichnen kann; dies ist die Erkenntnisform, in welcher wir mit dem Universum vereint werden, und aus diesem Einssein heraus bilden und formen wir unser eigenes Ich, bis die Harmonie des Innenlebens mit dem äußeren Universum eine geistige Einsicht hervorbringt, die nicht mehr dem Irrtum unterworfen ist. 

Anweisungen zum Erfassen eines hellseherischen Bewusstsein

Während ich diesem Vortrag zuhörte, sagte ich mir: ,Dieser Mann, der Rudolf Steiner heißt, gibt wirkliche Anweisungen zur Entwicklung eines dreigegliederten hellseherischen Bewusstseins. Nun sagt er mir in seinen Büchern, daß er nichts lehre, was er nicht selbst gefunden habe. Also muß er diese Fähigkeit selbst besitzen; er muß hellsichtig sein. Falls das zutrifft, muß er auch in der Lage sein, meine Gedanken zu lesen; er wird meine jetzigen Gedanken lesen können. Ich kann ihm also Fragen stellen, einfach indem ich sie denke, und er wird sie mir im Verlauf des Vortrages beantworten können.‘ Dies tat ich nun. Ich fragte wieder und wieder, und jedesmal antwortete er. 

Da ich jedoch eine kritische und wissenschaftliche Bildung genossen hatte, sagte ich mir: „Warum sollte das nicht einfach eine Illusion sein? Die Fragen, die ich stelle, ergeben sich ja auf logische Weise aus dem Inhalt seines Vortrags. Andererseits entwickelt er aber seinen Gegenstand ebenfalls in logischer Art. Er gibt mir also gar nicht Antwort, es besteht kein Anlass, den Schluß zu ziehen, er müsse sich meiner Fragen bewußt sein. Ich bilde mir bloß ein, daß dies so ist, weil ich wünsche, daß es so wäre.

Nach dem Vortrag ergab sich jedoch die Gelegenheit, aufgeschriebene Fragen abzugeben. 

Ich schrieb auf ein Stück Papier: 

Was kam zuerst: menschliche Sprache oder menschliche Vernunft? 

Rudolf Steiner kam schließlich auch zu meiner Frage, las und beantwortete sie, doch er tat dies nicht von dem Gesichtspunkt aus, den ich im Auge gehabt hatte. Meine Frage war von einem Buch, das ich gelesen hatte, angeregt gewesen, von Lazarus Geigers Buch Ursprung und Evolution der menschlichen Sprache und Vernunft. Ich wollte wissen, auf welche Weise und in welcher gegenseitigen Beziehung sich Sprache und Vernunft in der langen Menschheitsgeschichte entwickelt hatten; er antwortete dagegen nicht vom Gesichtspunkt der Geschichte der Menschheit, sondern von demjenigen der individuellen Entwicklung des Kindes. 

Ich war bitter enttäuscht; offensichtlich hatte er meine Frage nicht verstanden. Rudolf Steiner legte meinen Zettel nieder und schwieg einige Augenblicke. Dann nahm er ihn wiederum auf und sagte: ,Was ich eben gesagt habe, gilt nur von einem bestimmten Gesichtspunkt aus; es gibt auch noch einen anderen Aspekt, den der Urheber der Frage im Sinne hatte.‘ Und er ging dazu über, zu zeigen, wie sich in der Entwicklung der Menschheit Sprache und Vernunft, die eine anhand der anderen, entwickelt hatten.

Als die Fragezeit vorüber war, ging ich zu Rudolf Steiner hin und sagte: ,Es ist mir klar, wer Sie sind, und ich möchte Ihr Schüler werden.‘ Rudolf Steiner sagte: ,Ich nehme an, Sie können Englisch?‘ ,Nein‘, sagte ich. Dennoch fuhr er fort: ,Lesen Sie die philosophischen Werke von Berkeley, der die Existenz der Materie in Abrede stellte, und von Locke, der alles auf die Sinne gründete. Schreiben Sie dann eine Erkenntnistheorie für die spirituelle Erkenntnis, und vermeiden Sie diese beiden einseitigen Gesichtspunkte. Machen Sie’s, wie ich es gemacht habe: Lernen Sie die Fülle der Welt durch Aristoteles, den Erkenntnisakt selbst durch die Philosophie Fichtes kennen.‘

Schüler der Geisteswissenschaft

So wurde ich zum Schüler Rudolf Steiners, und der Rest meines Lebens ist im Zeichen dieser Schülerschaft gelebt worden.»

Die Begegnung ist in jeder Weise ungewöhnlich: die ganze Art, wie sich Stein äußert und Rudolf Steiner darauf antwortet. Allerdings lassen spätere Aufzeichnungen vermuten, daß im Lebensbericht aus „The Present Age“ die Inhalte zweier Gespräche zusammengezogen sind. 

In dem späteren Entwurf heißt es nach dem Hinweis auf Locke und Berkeley: «Sie müssen das Gleichgewicht zwischen beiden finden. Ich werde Ihnen noch Weiteres angeben.»

Es begann nun eine Folge von Gesprächen und Begegnungen, die sich bis zum Lebensende Rudolf Steiners fortsetzten. Die nächste Gelegenheit bot sich, als Stein im August 1913 in München an der Aufführung von Rudolf Steiners Mysteriendramen teilnehmen wollte.

Rudolf Steiners Mysteriendramen

Aber zunächst war noch ein Hindernis zu überwinden. Die Aufführungen waren damals nur für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft zugänglich, und Stein hatte eine Mitgliedschaft noch nicht erwogen. Wie er dennoch teilnehmen konnte, schildert er so:

«Mit dem Entschluss, die Brücke zu schaffen zwischen Naturwissenschaft und Anthroposophie, kam ich nach München zu den Mysteriendramen-Aufführungen. Aber ich war noch nicht Mitglied und wurde nicht zugelassen. Gräfin Kalckreuth teilte mir dies mit und sagte: ,Die Brücke zur Naturwissenschaft ist längst geschlagen, da kommen Sie viel zu spät.‘ Ich war aber keineswegs gesonnen, wegzureisen, ohne die Spiele gesehen zu haben, und appellierte an Dr. Steiner. 

Der kam in unendlicher Güte aus seinem Sprechzimmer: „Ja, Herr Stein,“ sagte er, „die Aufführungen sind nur für Mitglieder. Aber Sie können ja eintreten und sogleich nach der Aufführung wieder austreten.“ Damit war ich einverstanden. Und so konnte ich teilnehmen an jener wunderbaren Darstellung und in jener feinen, intimen Seelenwärme leben, von der alles in diesen Tagen getragen war. Nach der Aufführung kam Dr. Steiner und fragte mich: „Nun, Herr Stein, wie haben Sie sich amüsiert?“ Ich antwortete: „Solch ein Esel wie vor der Aufführung bin ich jetzt nicht mehr. Und aus der Gesellschaft austreten will ich auch nicht mehr. - So also wurde ich Mitglied.“

Es war das letztemal, daß im August 1913 die Mysteriendramen in München stattfinden konnten. 1910 hatte Rudolf Steiner einen neuen Schritt in der Verwirklichung der Anthroposophie getan. 

Im Stil einer modernen Mysteriendichtung schuf er eine Folge von vier Dramen. Stein sah die Wiederholung des dritten Mysteriendramas, „Der Hüter der Schwelle“, und die Uraufführung des vierten, „Der Seelen Erwachen“. In szenischen Bildern werden die Entwicklungswege höchst verschiedener, aber schicksalhaft verbundener Personen gezeigt, die als Geistsucher das Stirb und Werde, das Wunder der Lebenswandlung, die Einweihungsdramatik erfahren. 

Mit wachsendem Staunen erlebte Stein die Vorgänge auf der Bühne wie die Vorwegnahme seines eigenen Erkenntnisdramas.

«Es war die schönste Zeit des Jahres, diese Festspielzeit in München», berichtet Marie Steiner, die eine Hauptgestalt in den Mysteriendramen, die Geistesschülerin Maria, verkörpert. «Am Tage probten wir; in der Nacht schrieb Rudolf Steiner seine in Gedanken schon fertig gestalteten Dramen. Dazwischen leitete und überwachte er die verschiedenen Werkstätten, in denen nach seinen Angaben geschreinert, gezimmert, gemalt, modelliert, genäht und gestickt wurde. Für alles hatte er neue Gedanken; überall konnte er zugreifen.»  

Die Darsteller, fast durchweg Laienspieler, wuchsen, von seinem Vertrauen getragen, über ihre Grenzen hinaus. So konnte das Wagnis gelingen, übersinnliche Vorgänge szenisch darzustellen. Alle Berichte sprechen von der Überzeugungskraft und seelenerschütternden Wirkung dieses Ereignisses, das den Teilnehmern das Erleben der Geistwirklichkeit erschloß.

Eurythmie-Uraufführung

Zu der überwältigenden Fülle des Ungewohnt-Neuen kam noch eine weitere «Uraufführung»: die erste orientierende Darstellung der Eurythmie am 28.August, dem Geburtstag Goethes. 

Rudolf Steiner hatte diese neue Bewegungskunst, die er «sichtbare Sprache» und «sichtbaren Gesang» nannte, ab 1912 zu entwickeln begonnen. Schon im folgenden Jahr wurden einführende Kurse eingerichtet, die viele Besucher anzogen. Ein zarter Glanz lag über diesem Neubeginn und verband sich mit den künstlerischen Eindrücken der Mysteriendramen.

Als drittes Element folgte die Erkenntnisarbeit, die mit dem Vortragszyklus «Die Geheimnisse der Schwelle» begann. Rudolf Steiner mußte die acht Vorträge zweimal halten — jeweils um 11 Uhr und um 20 Uhr —, da so viele Mitglieder, auch vom Ausland, angereist waren. 

Er sprach von dem Bewußtseinsumschwung des 20.Jahrhunderts, der die noch unerleuchtete Menschheit in geistige Erfahrungsbereiche führt und sie vor die Aufgabe stellt, zur Intellektualität die Spiritualität hinzuzuerwerben, um vor den herandringenden Geistmächten bestehen zu können. Überraschend für die Zuhörer war sogleich im ersten Vortrag vom Filioque-Streit die Rede. 

Diese Auseinandersetzung leitete die Trennung der östlich-orthodoxen von der katholischen Kirche ein, weil der Westen den Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater und vom Sohn = filioque behauptete, was der Osten nicht anerkannte. Nur das westliche Christentum realisierte, daß der Geist — seit dem Christusereignis — eine neue Gestalt angenommen hat und im Ich des Menschen wirksam geworden ist. 

«Als das Karolingische Schwert vom Westen gegen den Osten hin zur Geltung gebracht hat — es war nicht die Papstkirche, die es getan hat, sondern das Karolingische Schwert — das Glaubensbekenntnis, dass der Geist ausgehe vom Vater und vom Sohn, wurde in der europäischen Kultur der Grund gelegt für das, was wir in mächtigen und erschütternden Wellenschlägen heute wiederum heraufpulsieren sehen.» — So weist Rudolf Steiner ein Jahr vor dem Ausbruch des Weltkrieges auf den Schicksalszusammenhang des 9. und des 20.Jahrhunderts hin: wie sich in den Ost-West-Verhältnissen des 9.Jahrhunderts der weltgeschichtliche Ost-West-Konflikt der Gegenwart vorbereitet hat. 

Motive klingen an, die Stein in seinem Hauptwerk „Weltgeschichte im Lichte des Heiligen Gral — Das neunte Jahrhundert“ aufgreifen wird.

Als eine Kulmination des europäischen Geisteslebens, so hat Christian Morgenstern das Münchener Ereignis, die Dramen und die Vorträge Rudolf Steiners, angesehen.

Aber in dieser Festspielzeit kulminierte auch das Zusammenwirken Rudolf Steiners mit der ersten anthroposophischen Generation, jenen «heimatlosen Seelen», die nach einer spirituellen Lebensorientierung suchten und sie durch die Anthroposophie fanden. Da konnte Stein den führenden Mitgliedern begegnen, denen er sich schicksalhaft verbunden hat: Emil Molt, durch die Zusammenarbeit beim Aufbau der Waldorfschule, und Carl Unger, dem bedeutenden Erkenntniswissenschaftler, durch die Auseinandersetzungen in der Krisenzeit der Anthroposophischen Gesellschaft.

Verwandelt und neu impulsiert, kam Stein nach Wien zurück. In der Rückschau zog er die Summe: «Ich wuchs allmählich in die wirkliche Geschichte hinein und fand meine eigene Stellung im Strom dieser Geschichte.» 

Intensives Einleben in die anthroposophische Gesellschaft

Nun teilte er seine Zeit zwischen dem akademischen und dem anthroposophischen Studium. 

Er arbeitete sich durch Rudolf Steiners Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften hindurch und suchte eine Verständnisbrücke zwischen Anthroposophie und moderner Physik. 

In dieser Bemühung half der Gedankenaustausch mit anthroposophischen Freunden weiter, insbesondere mit dem Mathematiker Ernst Blümel, der an der Stuttgarter Waldorfschule sein Kollege wurde. Auch Karl Schubert, den späteren Waldorflehrer, lernte er damals kennen.

Grundsteinlegung des ersten Goetheanums

Sehnlich wartete Stein auf eine Wiederbegegnung mit Rudolf Steiner. Unterdessen waren entscheidende Ereignisse eingetreten. Am 20. September 1913 hatte in Dornach bei Basel die Grundsteinlegung des ersten Goetheanums stattgefunden. Der Bau, der ursprünglich in München errichtet werden sollte, entstand nach dem Entwurf Rudolf Steiners als Doppelkuppelbau in der Schweizer Juralandschaft. Für die Aufführung der Mysteriendramen und die Einrichtung einer Freien Hochschule für Geisteswissenschaft wünschten die Mitglieder ein eigenes Gebäude. Nach der Grundsteinlegung begann Rudolf Steiner mit den Darstellungen des «Fünften Evangeliums». Es war «die Krone des von ihm über den Christus Mitgeteilten», schrieb der russische Dichter Andrej Belyj, der an dem ersten Kurs in Christiana, dem heutigen Oslo, teilgenommen hat. 

In diesen Vorträgen entwickelte Rudolf Steiner den historischen Aspekt des Christus-Ereignisses, das Leben des Jesus von Nazareth als geschichtliche Persönlichkeit in biographischen Einzelheiten darstellend. Das Jahr 1914 brach an, in dem der Goetheanum-Bau fertig werden sollte. Am 1.April war das Richtfest. Anschließend kam Rudolf Steiner nach Wien, um den Vortragszyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt» zu halten. Ganze Gruppen von Mitgliedern reisten zu solchen Kursen an; als Angehörige einer «mobilen Universität» folgten sie den Kursen des «Doktors» von Stadt zu Stadt. Auch Michael Bauer, der Freund des am 31. März 1914 verstorbenen Christian Morgenstern, befand sich unter ihnen.

Der Zyklus war wie ein Kunstwerk komponiert. Die Vorträge schlossen mit den Gliedern der trinitarischen Formel Ex Deo nascimur, In Christo morimur, Per Spiritum Sanctum reviviscimus. Als eine Wegzehrung für die Zeiten künftiger Not gab Rudolf Steiner den Zuhörern diesen alten Weisheitsspruch mit. Im letzten Vortrag sprach er von den «furchtbaren Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen» — als den Folgen einer wuchernden Produktion und des Kampfes um die Absatzmärkte — und endete mit dem Weckruf, das zeitgeforderte Bewußtsein aufzubauen, das zu den gestaltenden Geistmächten vordringt.

Rudolf Steiner als Vortragender — dieses Phänomen haben manche seiner Zuhörer eindringlich geschildert; auch Walter Johannes Stein. Die Vorträge Rudolf Steiners waren keine gesprochenen Aufsätze. In freier Rede formten sich die Inhalte, die er aus der Gegenwart des Geistes schöpfte. Wer diese Schöpferkraft erfahren wollte, mußte eine meditative Aufmerksamkeit entfalten. Dann konnte es geschehen, daß er, in einem ätherischen Rhythmus mitschwingend, aus dem Leibe herausgehoben wurde und zu einer Wesensschau gelangte. So hat es Stein schon beim Anhören des ersten Vortrages empfunden:

«Rudolf Steiner erlebte man wie ein Zu-sich-selber-Kommen, aber nicht wie man schon war, sondern wie man eigentlich erst werden sollte, vielleicht erst in unendlichen Zukünften, vielleicht erst am Ende aller Entwicklung, aber er brachte einen zu sich. Man war versucht zu denken: Du bist, wie ich werden soll; aber ich bin nicht du, weil ich weder die Liebe noch die Erkenntnis habe, die du schon hast. Solche Gefühle sind schwer zu beschreiben. Aber indem man Rudolf Steiner wie ahnend empfand, fühlte man ihn als christlich. Denn er war nicht nur er selbst, sondern jeder andere auch, der da war. Er ging heraus aus seinem Leib, während er sprach, wurde eins mit jedes einzelnen Zieldasein, und aus all dem sprach er. Und dieses Einssein mit allen und gerade darin das wahre liebende und verstehende Eigensein zu leben, das schien so ganz christdurchdrungen zu sein. Denn hat der Christus nicht gesagt: Was wir einem jeden seiner Brüder oder Schwestern zufügen, das haben wir gerade ihm zugefügt? So wurde mir die Begegnung mit Rudolf Steiner zu einer konkreten Begegnung mit dem christlichen Prinzip. Da war er, der wahre Christuskünder, der sich hineingeopfert hatte in das naturwissenschaftliche Zeitalter, damit sogar die, welche in Physik und Mathematik lebten, den Christus finden sollten."

Erkenntnistheorie: Aristoteles und Fichte

Endlich kam die langerwartete Unterredung zustande. Es war in der Osterzeit während des Wiener Vortragszyklus. Stein berichtete von seinen Studien, worauf Rudolf Steiner, an das erste Gespräch anknüpfend, erklärte: «Sie müssen es so machen wie ich. Ich habe Aristoteles durch Johann Gottlieb Fichte ergänzt. Aristoteles hat die Naturerkenntnis und empfängt seine Gedanken wie eine Wahrnehmung. Er sagt, es ist nichts im Gedanken, was nicht durch die Sinne in uns eintritt. 

Fichte aber hat die Tathandlung. Er hat die spirituelle Aktivität. Die konnte Aristoteles noch nicht haben, das kam erst später mit der fortschreitenden Entwicklung der Persönlichkeit. Der Nous poietikos des Aristoteles ist doch noch nicht diese Denkaktivität bei Fichte. Denn Aristoteles erlebt real nicht, daß er die Gedanken er— zeugt. Sein Nous poietikos ist nur das Erzeugen des Lichtes, das die Gedanken beleuchtet. Das Licht fühlt er als sein Erzeugnis, aber noch nicht die Gedanken selbst. Wenn Sie daher den Aristoteles durch Fichte weiterbilden, kommen Sie zur Anthroposophie. Sie beruht auf dem schaffenden, ichbewußten Denken, das im Menschengeist, der sie schafft, nur als alte Götteroffenbarung nicht mehr erlebt werden kann in unserer Zeit. Sie müssen als Doktorat eine Erkenntnistheorie dieser spirituellen Erkenntnis schreiben und sie in ein Verhältnis zur Naturwissenschaft setzen, die das Spirituelle noch heute nicht entdeckt.» 

Dieser Hinweis wurde für Steins Entwicklung entscheidend. Rudolf Steiner wies auf seine eigene Arbeitsmethode hin: durch den lebendigen Ausgleich von Polaritäten das Geheimnis des Werdens zu erschließen und eine Wirklichkeitsanschauung zu begründen, die verstehen läßt, wie sich das Geistige im Stofflichen, das Kosmische im Irdischen manifestiert. Damit war für Stein der Ausgangspunkt gewonnen, die naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Studien zusammenzuschließen. Mit beharrlicher Energie machte er sich an die Arbeit.

Aber noch eine andere Schicksalsfolge hatte Rudolf Steiners Anwesenheit in Wien. Vor dem letzten Vortrag hielt er eine Ansprache über den entstehenden Dornacher Bau. In seiner Formensprache sollte dieses Kunstwerk ein Wahrzeichen des anthroposophischen Geistes werden. Gleichsam an der Grenze des Sichtbaren errichtet, sollten seine Wände durch ihre Gestaltung sich selbst aufheben wie «Kommunikatoren, welche das geistige Leben eröffnen in unendliche spirituelle Weiten».

Praktische Mitwirkung am Bau

Unter dem Eindruck dieser Worte entschloß sich Hermine Stein, die Mutter, am Goetheanum-Bau mitzuarbeiten. In Dornach war etwas wie eine Bauhütte entstanden. Hunderte von Mitgliedern, Berufskünstlern und Dilettanten strömten aus allen Weltgegenden zusammen und halfen als Maler, Schnitzer, Glasschleifer, angeleitet von Rudolf Steiner, das «Gesamtkunstwerk» zu fördern.

Auch WalterJohannes Stein schloß sich — wie schon bei den Mysteriendramen — seiner Mutter an und besuchte sie Ende Juli in Dornach. Damals wurden gerade die Kuppeln mit dem von Rudolf Steiner in Norwegen ausgesuchten Schiefer gedeckt. An den Kapitellen und Architraven arbeiteten hundertfünfzig Schnitzer. Die Künstler Hanns Strauß und Max Wolffhügel, die Rudolf Steiner später an die Waldorfschule berief, waren unter ihnen. Stein durfte an einem Architrav mitschnitzen. Er bekam Meißel und Klöppel in die Hand, dazu die Mahnung: «In der linken Hand: das Gefühl — fühlen Sie die Form mit dem Meißel; in der rechten die Kraft. Das Zusammenwirken von beiden ist dabei das Wichtigste.»  

Noch im Sommer bestand die Hoffnung, daß der Bau Ende des Jahres fertig und das fünfte Mysteriendrama darin aufgeführt werden könne.

Aber seit dem Attentat von Sarajewo wuchs die politische Hochspannung von Tag zu Tag. 

W.J.Stein mit seiner Mutter 1914

Mobilmachung in Österreich. Stein verlässt Dornach.

In Österreich lief die Mobilmachung gegen Serbien schon an. Am 26. Juli hielt Rudolf Steiner, von Skandinavien zurückgekehrt, den letzten Vortrag vor dem Ausbruch des Krieges. Unter den Zuhörern, die sich in der Schreinerei zwischen Maschinen und Holzstapeln versammelt hatten, saß auch Stein. Nach dem Weckruf, mit dem die Wiener Vorträge geschlossen hatten, erlebte er nun den Dornacher Vortrag wie ein Abschiedswort. «Wahrhaftig, wir dürfen auch in Tagen der Wehmut, in Stunden, die ein so ernstes Gesicht uns zeigen wie diese, ja wir dürfen nicht nur, wir müssen von den heiligen Angelegenheiten unserer Geisteswissenschaft sprechen, denn den Glauben dürfen wir haben, daß, so klein sich die Sonne dieser Geisteswissenschaft heute noch zeigt, sie wachsen und immer mehr wachsen wird und immer leuchtender werden wird, diese Friedenssonne, eine Sonne der Liebe und Harmonie über die Menschen hin.»  

Da kam die Nachricht, daß die Österreichische Grenze geschlossen werde. Ein Stellungsbefehl konnte ihn nicht mehr erreichen. Der Bruder Friedrich war schon eingezogen. In dieser Situation fragte er Rudolf Steiner um Rat. Die Antwort war: «Folgen Sie der Stimme Ihres Gefühls.» Und das Gefühl sagte ihm, daß er abreisen solle. Am Basler Bahnhof wurde ihm bewußt, daß dieser Aufbruch ins Ungewisse ein Abschied ohne Rückkehr sein könnte. In der letzten Viertelstunde vor der Abfahrt des Zuges schrieb er im Wartesaal folgenden Brief an Rudolf Steiner.

Brief W.J.Stein an Rudolf Steiner:

Hochverehrter Herr Doktor!

Es liegt die Nachricht vor, daß Telegraph und Telefon nach Österreich abgeschnitten sind, und dies veranlasst mich, auch ohne Einberufungskarte nach Wien zu fahren, da es meine militärische Pflicht ist erreichbar zu sein. Ich habe nicht mehr die Möglichkeit mit Ihnen, hochverehrter Herr Doktor, zu sprechen. Es sind nur wenige Worte des Dankes, die ich darum an Sie niederschreibe, die ein äußeres Zeichen eines tief innerlich Erlebten sein mögen. Die Schlussworte Ihres Vortrages waren so recht Abschiedsworte - eine Ermahnung und eine Anfeuerung des Wollens. Als solche hab ich sie empfunden und genommen. Dass ich jetzt einer Zukunft wie sich mir nun darstellt, fest und sicher entgegensehen darf, das ist es, was ich restlos Ihnen, hochverehrter Herr Doktor, verdanke. An welchen Platz ich nun gestellt werde, weiß ich nicht - dass ich aber alle Ideale, alles schöne und große, das Geisteswissenschaft mir geben konnte an diesem Platz ausleben will, das weiß ich. Und ich fühle mich, wenn Dankbarkeit mir Kraft des Wollens leiht, Ihnen verbunden, in einem Gefühle dass einer Persönlichkeit, einer Idee und einem vollen lebendigen Weltinhalt zugleich gilt.

In Dankbarkeit und Verehrung Ihr sehr ergebener Walter Stein.

Zweimal erwähnt Rudolf Steiner diesen Brief als ein Zeichen für die Gesinnung, die aus der Anthroposophie erwächst: der Glaube an «die Sieghaftigkeit des Geistes».

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