Wladimir Galaktionowitsch Korolenko RUSSISCHE ERZÄHLUNGEN

   ERZÄHLUNGEN AUS  RUSSLAND

Das Gebet in der Sternennacht/Die erste Liebe/In schlechter Gesellschaft/Der Traum Makars/Die Nacht vor dem Auferstehungsfest

Mit sechs Zeichnungen von Karlheinz Flau

Anhang: Auszüge aus seinem Leben von B.Lietow und Dr. Eugen Häussler

 

Die Nacht vor dem Auferstehungsfest

Karsamstag im Iahre 187*.

Längst hatte sich ein trüber Abend auf die verstummte Erde gesenkt. Tagsüber hatte es sich aufgewärmt, jetzt schien die Erde, vom frischen Frosthauch der Frühjahrsnacht leicht umweht, ruhig und tief zu atmen; von diesem Atem stiegen weißliche Nebel auf und glänzten in den Strahlen des majestätisch funkelnden Sternenhimmels, als wären es Weihrauchschwaden, die dem kommenden Fest entgegenzogen.

Es war still. Die kleine Gouvernementsstadt N., ganz in die trübe Kühle eingetaucht, erwartete stumm den Augenblick, da von der Höhe des Kirchturms der erste Glockenschlag erklingen würde. Aber die Stadt schlief nicht. Unter der feuchten Hülle der Dämmerung, im Schatten der schweigsamen, menschenleeren Straßen, spürte man verhaltene Erwartung. Nur bisweilen lief verspätet noch jemand vorbei, den beinahe der Feiertag bei seiner schweren Arbeit überrascht hätte, oder es fuhr ratternd eine Mietskutsche vorüber - dann wieder herrschte lautlose Stiulle... Das Leben war von den Straßen in die Häuser z urückgewichen, in die reichen Wohnstätten und die elenden Hütten, deren Fenster nach außen leuchteten, und dort hielt es sich verborgen. Über der Stadt, den Feldern, über der ganzen Erde spürte man das unsichtbare Wehen des nahenden Festes der Auferstehung und der Erneuerung.

Der Mond war noch nicht aufgegangen, die Stadt lag im breiten Schatten einer Anhöhe, auf der ein großes, finsteres Gebäude zu sehen war. Seine eigentümlichen geraden und strengen Umrisse hoben sich düster vom Sternenhimmel ab; im Dunkel der überschatteten Mauer klaffte, kaum erkennbar, das Tor,- die vier Ecktürme schnitten mit ihren scharfen Spitzen in den Himmel.

Da löste sich von der Höhe des Glockenturms der erste klingende Schlag, wurde weitergetragen von der empfindsamen Luft dieser melancholischen Nacht, dann der zweite, der dritte ... Nach kurzer Zeit klangen und sangen von allen Seiten und in den verschiedensten Tonlagen die Glocken, und ihr Geläute verschmolz zu einer machtvollen Harmonie, schwang leicht und schien im Äther zu kreisen. Auch aus dem finster über der Stadt aufragenden Gebäude war ein schwindsüchtiges, brüchigesKlirren zu hören, es schien in der Luft zu zittern, ohnmächtig, sich nach dem machtvollen Akkord in die Ätherhöhen aufzuschwingen. 

Das Gebet in der Sternennacht von Wladimir Korolenko

Beten lernten wir schon früh. Das Vaterunser und das Gebet für die Gottesmutter kannten wir auswendig. Ich hatte ein gutes Gedächtnis und eignete mir schnell die beiden Texte in polnischer und kirchenslawisch-ukrainischer Sprache mechanisch an, aber ich kannte sie nur dem Gehör nach als eine Vielzahl von Lauten. Das Vaterunser klang für mich so: „Vater unser, Jesu Christ im Himmel...“ In der Folgezeit begann ich zu überprüfen, wie einige meiner Bekannten diese selben Wörter verstanden. Einer von ihnen, ein stämmiger Knabe, der einige Jahre älter war als ich, sprach sie kleinrussisch aus, so dass es klang wie „Vater unser, der du frierst im Himmel...“

Als der Vater einmal unser papageienhaft geplappertes Morgengebet hörte, rief er uns alle in sein Zimmer und lehrte uns die richtige Aussprache und den Sinn des Gebets. Danach brachten wir die Wörter nicht mehr durcheinander und verstanden ihre Bedeutung. Aber das Gebet ließ uns kalt und erregte nicht unsere Phantasie.

Eines Tages entschied der Vater, dass es für mich und meinen jüngeren Bruder an der Zeit sei, zur Beichte zu gehen, und nahm uns mit in die Kirche. Wir wohnten der Abendmesse bei. Die Kirche war fast leer, man hörte nur das verhaltene, scheue, andächtige Gemurmel der wenigen Betenden. Aus dem dunklen Häuflein der Beichtwilligen löste sich eine Gestalt und kniete nieder, der Priester bedeckte den Kopf des Beichtenden, beugte sich über ihn und lauschte aufmerksam. Dann begann ein leises, bedeutsames, eindringliches Geflüster.

Ich fürchtete mich und schaute instinktiv auf meinen Vater. Wegen seines lahmen Beines konnte er nicht lange stehen, er betete im Sitzen. Etwas Besonderes spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Es war traurig, gespannt und ergriffen, aber mehr traurig als ergriffen. Außerdem zeigt er noch den Ausdruck innerer Bemühung. Seine Augen schienen etwas über uns zu suchen, in der Höhe unter der Kuppel, wo ein blaues Weihrauchwölkchen schwebte, von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne durchdrungen. Seine Lippen flüsterten immer dasselbe Wort: „Vater...Vater...Vater...“

Es klang, als sei er nicht imstande, dieses erste Wort zu überwinden, um das Gebet fortzusetzen. Als er merkte, dass ich ihn unwillkürlich erstaunt ansah, drehte er sich leicht verärgert zur Seite, ließ sich mühselig auf die Knie nieder und betete noch einige Zeit, fast auf dem Boden liegend. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, war sein Gesicht wieder ruhig, die Lippen flüsterten die Worte gleichmäßig, doch seine feuchten Augen leuchteten und waren starr auf etwas in dem strahlenden Halbdunkel unter der Kuppel gerichtet.

Später konnte ich oft das gleiche feststellen, wenn er zu Hause betete. Manchmal hob er die Hand mit den zusammengepressten Fingern an die Stirn, um sich zu bekreuzigen, und ließ sie wieder sinken, legte sie abermals mit Anstrengung an die Stirn, als ob er etwas in den Kopf hineindrücken wolle oder als ob ihn etwas daran hindere, das Begonnene zu vollenden. Nachdem er sich dann bekreuzigt hatte, flüsterte er wieder viele Male: „Vater...Vater...Vater...“, bis endlich das Gebet gleichmäßig von seinen Lippen floss. Zuweilen gelang es ihm nicht. Dann erhob er sich müde und ging langsam durch die Zimmer, erregt und traurig. Danach betete er von neuem.

Der Traum Makars

Dies ist der Traum des armen Makar - desselben Makar, von dem es im Sprichwort heißt‚ daß er seine Rinder auf einen abgelegenen dürren Weidegrund getrieben habe und daß sein Kopf von jedem herabfallenden Tannenzapfen getroffen werde.

Seine Heimat - das weltverlorene Dörfchen Tschalgan - lag verborgen im fernen jakutischen Urwald. Die Ahnen und Urahnen Makars hatten dem Dickicht ein Stückchen durchfrorener Erde abgewonnen und waren unverzagt geblieben, wenn die düstere grüne Wildnis sie immer noch wie eine feindselige Mauer umringte. Im Laufe der Jahre begannen aber geflochtene Zäune sich durch die Rodung hinzuziehen; Ställe und Scheunen wuchsen um niedere, rauchige Wohnhütten empor; und endlich ragte auf dem Hügel inmitten der Siedlung ein Glockenturm wie eine Siegesfahne himmelan: Tschalgan war mittlerwelie zu einem nicht unansehnlichen Dorf geworden.

Doch während die Vorfahren Makars mit dem Urwald kämpften, ihm mit Feuer zu Leibe rückten und mit Äxten auf ihn einhieben, verwilderten sie selber unmerklich. Sie heirateten jakutische Weiber und nahmen deren Sitten und Gebräuche an. Die Wesenszüge des großrussischen Stammes verwischten sich allmählich bei ihnen und gingen bald gänzlich verloren.

Wie dem auch sein mochte - für seine eigne Person war Makar tief davon durchdrungen, ein echtbürtiger Tschalganer Bauer zu sein. Hier war er geboren, hier lebte er, hier gedachte er einmal zu sterben. Er tat sehr stolz mit diesem Wissen um seine russische Herkunft und schalt die andern zuweilen «jakutische Heiden», obgleich er sich in seinen Gewohnheiten und seiner Lebensweise fast durch nichts von einem Jakuten unterschied. Russisch sprach er nur wenig und schlecht, kleidete sich in Felle, trug ungefüge Stiefel aus Rentierleder und nährte sich für gewöhnlich von den landesüblichen flachen Brotfladen aus ungesäuertem Teig und einem Ziegelteeaufguß. An Festtagen verzehrte er dazu so viel zerlassene Butter, als vor ihm auf dem Tisch stand. Er verstand es, kunstvoll auf Ochsen zu reiten. Und wenn er krank war, ließ er einen alten Schamanen rufen, der ihn schäumenden Mundes mit knirschenden Zähnen umtanzte, um die bösen Krankheitsgeister zu erschrecken und zu vertreiben.

Er arbeitete übermäßig, lebte armselig und mußte oft Hunger und Frost leiden. Gab es für ihn überhaupt andere Gedanken als die ständigen Sorgen um Brotfladen und Tee?

O ja, es gab sie.

Die erste Liebe von Wladimir Korolenko

In meiner Kindheit und Jugend wurde meine Stimmung stark von Träumen beeinflusst. Es heißt, wer einen festen, gesunden Schlaf hat, träumt nicht. Bei mir traf das Gegenteil zu. Ich war kerngesund; dennoch träumte ich viel und konnte mich meiner Träume auch entsinnen. Sie verflochten sich mit realen Geschehnissen, verstärkten manchmal den Eindruck auf erschreckende Weise, hatten aber auch zuweilen eine so starke Wirkung auf mich, als ob ich das Geträumte wirklich erlebt hätte.

Damit das Folgende deutlicher und begreiflicher werde, muss ich zu den Jahren meiner frühen Kindheit zurückkehren.

Noch vor meinem Eintritt in das Gymnasium hatte mein Vater, in seiner Eigenschaft als Richter in Shitomir, einen Schreiber, namens Alexander Brodskij. Vaters Schreiber wechselten häufig. Zumeist waren es verkrachte Existenzen, die Pech im Leben gehabt hatten und aus dem Geleise geraten waren. Manchmal fanden sich unter ihnen wirkliche Begabungen. Einer, Pan Kornilowitsch, setzte sogar meinen Vater, der in der Gesetzeskunde vorzüglich Bescheid wusste, durch sein phänomenales Gedächtnis von Paragraphen, Kommentaren und Senatsentscheidungen in Erstaunen. Mein Vater konnte seinen Schriftführer nicht genug preisen. Zuweilen veranstalteten sie richtige kleine Turniere, um festzustellen, wer das bessere Gedächtnis habe; dabei blieb Kornilowitsch zumeist Sieger. In seiner Miene und der Art seines Benehmens war jedoch etwas Unsympathisches: sein Gesicht war aufgedunsen, und er blickte einen nicht offen an, sondern mit scheuen, gesenkten Augen. Nach einiger Zeit begann er zu trinken, erschien mit mürrischem, verwüstetem Gesicht zum Dienst, konnte nicht arbeiten, brachte die Schriftstücke durcheinander und verschwand schließlich spurlos von der Bildfläche.

Nach ihm wechselten sich noch einige Schreiber auf diesem Posten ab. Sie kamen, blieben nicht lange und verschwanden unter mehr oder weniger dramatischen Begleitumständen, die sämtlich auf das Konto Trunksucht gingen.

Schließlich erschien Pan Brodskij. Er machte sofort auf uns alle einen sehr guten Eindruck. Er war einfach, aber mit einem gewissen Geschmack gekleidet. Alles an ihm sprach von seiner Korrektheit. Dem Alter nach mochte er gegen dreißig sein.

Er hatte ein offenes, polnisches Gesicht, blaue, gutmütige Augen und einen breiten, rotblonden, etwas gekräuselten Bart. Mit einem Wort, er ähnelte durchaus nicht einem Gelegenheits-Schreiber.

Wir Kinder hatten anfangs Scheu und Furcht, zu einem so stattlichen Herrn, der einen Bart wie der Hetman Tscharnetzkij trug, in nähere Beziehungen zu treten. Es erwies sich indessen, , dass in diesem gesetzten Manne eine reine, kindliche Seele wohnte, und bald hatten wir ihn alle sehr liebgewonnen. Mich selbst verband eine wirkliche, feste Freundschaft mit ihm, die auf völlig gleichen Rechten beruhte, als ob wir beide Erwachsene oder, umgekehrt, beide Kinder seien. Ich besuchte damals noch die private Vorschule und begann mich eben mit der russischen Grammatik zu befassen (polnisch sprach und schrieb ich damals besser). Er half mir manchmal bei den Schulaufgaben und lernte eifrig mit mir zusammen die deutschen Vokabeln und die Regeln der Grammatik. Aber auch ich half ihm bisweilen. Er war Pole, und die richtige Anwendung des russischen Buchstabens „jatj“ fiel ihm schwerer als mir. Manchmal kam es wegen des einen oder anderen Wortes in einem amtlichen Schriftstück zu regelrechten Beratungen zwischen uns. Brodskij hegte großes Vertrauen, wenn auch nicht zur Festigkeit meines Wissens hinsichtlich des „jatj“, so doch zu meinem Sprachgefühl, das tatsächlich selten trog.

In den Abendstunden, wenn wir beide freie Zeit hatten, zog er aus seinem Lederköfferchen ein polnisches Buch und las mir Verse des polnischen Dichters Syrokomla laut vor. Bis heute erinnere ich mich an seine sonore, etwas singende Stimme, in der eine eigentümlich sinnliche Bewegtheit mitschwang. Besonders ist mir eine Verserzählung im Gedächtnis geblieben, in der die Schuljahre eines Knaben bei den Jesuiten oder Piaristen beschrieben wurden. Die Wände der Schule waren mit Inschriften vollgekritzelt. Eine, von der Hand eines Waisenknaben stammend, lautete:

O Gott, o mein Gott! Wie bin ich arm! Wer hilft mir?

In schlechter Gesellschaft

Aus den Kindheitserinnerungen meines Freundes

1. Die Schloßruine ...Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Mein Vater, der von der Trauer um ihren Tod ganz niedergerückt war, schien meiner ganz vergessen zu haben; nur zuweilen liebkoste er meine jüngere Schwester und sorgte sich um sie, weil sie die Züge der Verstorbenen trug. Ich aber wuchs heran wie ein wildes Reis, ohne Liebe und Sorgfalt und Erziehung.

Das Städtchen, in dem wir lebten, hieß Knjashe Wjeno. Es gehörte einem alten, verarmten, doch stolzen polnischen Adelsgeschlecht und trug alle typischen Züge eines beliebigen Städtchens des südwestlichen Russland, in dem neben dem ruhig dahinfließenden Leben des sich im Schweiße seines Angesichts mühenden Arbeiters und der jüdischen Bevölkerung mit ihren kleinlichen Interessen, die Nachkommen eines einst stolzen und mächtigen Adelsgeschlechts die letzten Krumen ihres Vermögens verzehrten.

Wenn man sich dem Städtchen von Osten nähert, erblickt man vor allem das Gefängnis, seine größte Zierde in architektonischer Beziehung. Die Stadt selbst liegt unten an dem kleinen, träumerisch ruhig hinfließenden Bache; man muss zu ihr auf abschüssiger Chaussee hinabsteigen, die durch einen Schlagbaum versperrt wird. Ein verschlafener Invalide öffnet den Schlagbaum - und man ist in der Stadt, obgleich man es nicht sofort erkennen kann: graue Zäune, offene, unbebaute Plätze wechseln ab mit Hütten, die im Laufe ungezählter Jahre in den Boden gewachsen zu sein scheinen. Dann kommt man auf einen großen freien Platz, der von allen Seiten mit Einfahrten in jüdische Gasthöfe eingezäunt ist, darauf folgen die staatlichen Gebäude, die eine gewisse Wehmut ins Herz wehen mit ihren weißen Wänden und ihren regelmäßigen, kasernenhaften Umrissen. Die hölzerne, über das schmale Flüsschen führende Brücke knarrt unter den Rädern des hinüberfahrenden Wagens und wankt, wie ein altersmüder Greis. Jenseits der Brücke sind die von Juden bewohnten, schmutzigen Straßen mit Magazinen, Buden, Tischen jüdischer Wechsler und Brotverkäufer - mit dem obligaten Schmutz, Gestank und dem Haufen schmutziger Kinder, die sich umherwälzen im Strassenstaube.

Und dann - nur eine Minute - und wieder ist man außerhalb der Stadt. Leise flüstern die Birken über den Gräbern des Friedhofs und wogt das Korn auf den Feldern und singt der Wind sein wehmütiges Lied in den Telegrafendrähten.

Das Flüsschen, über das die Brücke führt, kommt aus einem Teiche und mündet in einen anderen. Auf diese Weise ist das Städtchen von Norden und Süden eingezäunt von breiten Wasserflächen. Die Teiche werden von Jahr zu Jahr flacher und bedecken sich mit Wasserpflanzen, und an ihren Ufern wogt hohes Schilfrohr, wie die Flut eines Meeres. Inmitten eines der Teiche ist eine Insel, und auf ihr steht ein altes, halbzerfallenes Schloß.

 

Wladimir Galaktionowitsch Korolenko und seine Erzählungen/Von B.Ljetow

Der hervorragende russische Schriftsteller wurde in der Ukraine geboren.

Seine Kindheit und Jugend verlebte er in den Städten Shitomir und Rowno. Sein Vater, der Kreisrichter Galaktion Afanasjewitsch Korolenko, war ein anspruchsloser, fleißiger Arbeiter von einer für die damaligen Beamten seltenen Ehrlichkeit. Er gehörte dem Adel an, besaß aber weder Land noch leibeigene Bauern und lebte mit seiner Familie nur von seinem nicht hohen Gehalt.

Die frühesten Kindheitserinnerungen des Schriftstellers knüpften sich an jene Zeit, da die Leibeigenschaft in Russland sich ihrem Ende näherte.

Der Knabe hörte oft von seiner Umgebung, dass „die Bauern nicht länger den Herren gehören wollten“. Aus den umliegenden Dörfern drangen Nachrichten über Bauernunruhen. In der Küche, wohin der kleine Korolenko des Abends gerne ging, hörte er die Gespräche der Dienerschaft über die zu erwartende „Freiheit“, und was sie von den harten Gutsbesitzern erzählten. Der Knabe sah auch selbst solche Gutsbesitzer.

Alle diese Eindrücke hinterließen eine tiefe Spur im Bewusstsein des künftigen Schriftstellers. Früh begann er zu verstehen, welche Ungerechtigkeit in der Leibeigenschaft lag, und er lernte die Unterdrücker genauer zu betrachten. Er besuchte zuerst das Gymnasium in Shitomir, dann in Rowno.

Die Schuljahre waren eintönig und langweilig. Einen Tag um den anderen saßen die Gymnasiasten über trockenen, uninteressanten Lehrbüchern und büffelten. Die Lehrer verhielten sich den Wissenschaften gegenüber gleichgültig, ihren Zöglingen gegenüber feindlich.

Jedoch gab es damals auch welche, die ihre Arbeit aufrichtig liebten und ernst nahmen, fesselnd unterrichteten und ihren Schülern mit Achtung und Aufmerksamkeit begegneten. Es waren junge Menschen, die die Universität erst vor kurzem verlassen hatte.

Die markanteste Persönlichkeit unter ihnen war der Lehrer der russischen Literatur, Benjamin Wassiljewitsch Awdijew. Er war ein begabter Pädagoge, beherrschte sein Fach sehr gut und verstand es, in seinen Schülern ein echtes Interesse und die Liebe zur Literatur zu wecken.

Der Schüler Wladimir bekam vom Lehrer die Dichtungen von Nekrassow und Schewtschenko und die besten Werke von Gogol, Turgenjew und Leo Tolstoi. Alle diese Werke wurden damals nicht behandelt, und man empfahl sie nicht einmal als Lesestoff. Von Awdijew erhielt er auch zum ersten Mal die Ausätze der großen russischen Revolutionär-Demokraten Belinski, Tschernaschewski und Dobroljubow, und er las sie mit Begeisterung.

 

Wladimir Korolenko *1853 bis †1921 Von  Helmut Hauck

Die Werke von Korolenko, des russischen Schriftstellers kennenzulernen, ist gewiss ein Gewinn.  Er, der Zeitgenosse im Zarenreich, hat eine besondere Art des Schreibens herausgearbeitet. Wenn er in seinen Novellen und Erzählungen von schrecklichsten Ereignissen berichtet, so lässt er den Leser in seiner Bedrückung nie zurück, sondern zeigt immer die Möglichkeit eines optimistischen Ausgangs, da er der Meinung ist, dass der Mensch zum Glücklichsein geschaffen wurde, so wie der Vogel zum Fliegen.

Korolenko gehört in die Reihe seiner großen Zeitgenossen (Leo Tolstoi, Maxim Gorki, Anton Tschechow und anderer), die er in mancher Hinsicht auch überragt.

Am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert war er unbestritten in Russland eine moralische Autorität.

„Ich bin weder Sozialrevolutionär noch Sozialdemokrat“, sagte er von sich selbst. „Ich bin einfach ein Schriftsteller, der für Recht und Freiheit für alle Bürger unseres Vaterlandes schwärmt und als Kämpfer überall dort auftritt, wo Recht und Freiheit verletzt werden.“

Diesem Grundsatz ist er ein Leben lang treu geblieben und selbst als er schon schwer krank darniederliegt, hat er sich der Hilfe für Verfolgte nicht verweigert.

Er war ein politisch sehr aktiver Mensch, obwohl er nie Mitglied einer Partei war. In jungen Jahren von der Volkstümlerbewegung beeinflusst, wurde er zum Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit. Er selbst war ein Verbannter, der den Treueeid auf den Zaren verweigerte und mehrere Jahre in den entlegendsten Regionen Sibiriens dafür verbringen musste.

Sein Geburtsjahr ist 1853, in dem Ort Shitomir, in der Ukraine, geboren. Sein Vater war Russe, seine Mutter Polin. So erlebte er schon als Kind die nationalen und ethnischen Widersprüche und Auseinandersetzungen. Er fühlte sich immer zu den Schwachen und Unterdrückten hingezogen und suchte Lösungen von Problemen in einem tiefen Humanismus. Er war aber kein utopischer Träumer oder Pazifist, sondern griff mutig und selbstlos in das öffentliche Leben ein, um die bedrückenden Verhältnisse in Russland zu ändern. Auch war er kein Gegner revolutionärer Veränderungen, lehnte aber die bolschewistischen Methoden ab und erklärte bereits 1920 in sechs zur Veröffentlichung bestimmten Briefen an A.Lunacarskij, warum die Revolution scheitern wird, wenn die Bolschewiki ihre Politik nicht ändern. Auszug aus einem Brief an den Ersten Sekretär der Bolschewiki Antoli Wassiljewitsch,

natürlich habe ich mein Versprechen, ausführlich an Sie zu schreiben, nicht vergessen, zumal es meinem aufrichtigen Wunsch entsprang. Meine Ansichten über die wichtigsten Faktoren des gesellschaftlichen Lebens offen auszusprechen ist mir wie anderen aufrechten Schriftstellern schon lange ein zwingendes Bedürfnis. Die zur Zeit praktizierte „Freiheit des Wortes“ macht das unmöglich. Wir, die wir anders denken, sind gezwungen, statt der Aufsätze Memoranden zu schreiben. Doch ich hatte das Gefühl, mit Ihnen würde es mir leichter werden. Der Eindruck, den ich bei Ihrem Besuch gewann, bestärkte mich in meinem Vorhaben, und ich wartete nur auf die Minute, um mich hinzusetzen und mit einem Schriftstellerkollegen einen Gedankenaustausch über die schmerzlichsten Probleme der Gegenwart zu beginnen.

Doch der grauenhafte Vorfall, die Erschießungen während Ihres Hierseins, hat gewissermaßen eine Mauer zwischen uns aufgetürmt, so dass ich über nichts anderes sprechen kann, solange das nicht bereinigt ist. Deshalb muss ich, ob ich will oder nicht, mit diesem Vorfall beginnen.

(Aus: Hartmut Hauck, Späte Begegnung, 2013, Seite 43, Erster Brief)

Korolenko schreibt wenig über sich selbst. Über seine Liebe zur Natur und zum Menschen, den Kampf für nationale Gleichberechtigung, religiöse Duldsamkeit, gegen Hunger, Terror und die Todesstrafe, sein ganzes Denken, Fühlen und Handeln ist jedoch aus seinen belletristischen und publizistischen Veröffentlichungen zu entnehmen. 

Eine herausragende Leistung autobiografischer Literatur und ein Dokument russischer Zeitgeschichte ist sein Werk „Die Geschichte meines Zeitgenossen“, die durch seinen Tod unvollendet blieb. Auch als Redakteur, insbesondere der Zeitschrift „Russkoje Bogatstwo“ (Der russische Reichtum) leistete Korolenko viel nicht nur für die Verbreitung der Literatur, sondern auch zur Förderung schriftstellerischer Talente. Maxim Gorki verdankt ihm den Begin seiner schriftstellerischen Laufbahn.

Als Wladimir Korolenko am 25.Dezember 1921 in Poltawa starb, nahmen die Bevölkerung und die Vertreter der Öffentlichkeit drei Tage lang von morgens bis nachts schweigend an seinem Sarg Abschied.

Heute ist sein Wohnhaus Museum in Poltawa und bewahrt sein Andenken.

 

 

1 Kommentar

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    Futhargut

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